Was bleibt, wenn einer geht?

Geliebte Partner, verwandte Seelen – fast jeder von uns hat gewisse Menschen, ohne den wir uns das Leben nicht vorstellen könnten. Doch manche können, wollen nicht weiter im Leben bleiben. Was geschieht in uns, wenn ein geliebter Mensch Selbstmord begeht, was von uns geht mit – und was bleibt? Laura Neunasts geliebter Mensch hat sich im Mai 2020 für immer aus ihrem Leben gerissen, und Keine Lilien ist das Ergebnis ihrer Versuche, das Gewesene zu verarbeiten und ihre Gefühle in Worte zu fassen.

Keine Lilien lässt sich in kein stilistisches Genre zwängen. Es reflektiert Gedanken und Erinnerungen in Prosa, Gedichten, Scriptform, Tagebucheinträgen, Briefen oder auch nur einzelnen Sätzen. Diese Fragmente und Bewusstseinsströme spiegeln die Zerrissenheit von Neunast über das Geschehene eindrucksvoll wider: Leid – aber nicht nur. Wut – aber auch Liebe. Angst – aber auch Hoffnung. Es ist keine einfache Gute-Nacht Lektüre. Nicht, weil das Thema ein schweres ist, sondern weil die Sprache und der Stil so lyrisch und eindrucksvoll sind, dass man sich Zeit nehmen muss, um sie in sich aufzunehmen. Keine Lilien möchte genossen werden – trotz oder gerade wegen seiner Thematik. Neunast wälzt sich nicht in Selbstmitleid und schwarz-romantischer Melancholie, sondern analysiert, seziert geradezu ihre eigene Psyche und was dieser Tod damit gemacht hat. Sie gießt ihr Selbst in eine Pfütze zu unseren Füßen und man kann gar nicht anders, als sich selbst in der Reflexion irgendwie ein bisschen wiederzuerkennen.

Die Geschichte von Keine Lilien mag für viele beängstigend und deprimierend klingen, schließlich steht hinter jedem Satz, jedem Wort der Suizid eines geliebten Menschen, und damit möchte sich niemand auseinandersetzen oder gar identifizieren. Tatsächlich ist Neunasts Geschichte allerdings weder gruselig noch deprimierend, sondern vielmehr die ganz reale Sinn- und Selbstsuche einer jungen Frau nach einem einschneidenden Erlebnis, und damit kann man sich durchaus identifizieren. Keine Lilien zeigt, dass es okay ist, zu leiden, zu trauern, manchmal den Halt zu verlieren, aber eben auch, Erinnerungen zu schätzen, in sich zu horchen und weiterzugehen. Und vor allem: es ist okay, das alles auf die eigene, persönliche Art zu tun. Die Autorin selbst sagt mit einem Augenzwinkern „Habt bitte keine Angst vor meinem Buch, ich finde Game of Thrones und Vikings viel schrecklicher!“, und ich finde, da hat sie vollkommen recht.

Keine Lilien ist sicher keine leichte, sommerliche Unterhaltung für den Strand, aber eine zutiefst berührende und gedankenanregende Lektüre.

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Laura M. Neunast: Keine Lilien
Re:sonar Verlag, 2022
Paperback, 112 Seiten
€ 12,00

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