Zwischen Paragraphen und Psyche

Fiona Maye (Emma Thompson) ist kindeswohl eine äußerst angesehene Richterin am Londoner Royal High Court, stets gut vorbereitet, kompetent und professionell auf ihrem Fachgebiet des Familienrechts. Hinter der souveränen, eleganten Fassade schautes jedoch privat weit weniger perfekt aus: Ihre Ehe ist nach 30 Jahren quasi am Ende, zerstört durch ihr zeitintensives berufliches Engagement. Das geht so weit, dass ihr Ehemann Jack (Stanley Tucci), ein Geschichtsprofessor, ihr ankündigt, jetzt eine Affäre mit einer wesentlich jüngeren Frau beginnen zu wollen, da sie seit mittlerweile elf Monaten keinen Sex mehr hatten. Worauf Fiona nach einem Moment der Überraschung mit sachlicher Kühle reagiert, ihn der Wohnung verweist und sich umgehend wieder dem Aktenstudium widmet.
In dieser Krise wird sie mit einem besonders schwierigen Fall konfrontiert: Der 17-jährige Adam (Fionn Whitehead) liegt mit einer Leukämie-Erkrankung in einer Klinik, doch er und seine Eltern verweigern die dringend notwendige Bluttransfusion, da eine solche nicht mit ihrem Glauben vereinbar ist – sie alle sind fundamentale Anhänger der Zeugen Jehovas. Fiona trifft eine ungewöhnliche Entscheidung: Sie unterbricht die Verhandlung, verlässt den Gerichtssaal und besucht Adam im Krankenhaus. Der erweist sich als intelligenter junger Mann, der sich der Tragweite seiner Entscheidung vollkommen bewusst und bereit ist, für seine Religion zu leiden und zu sterben. Adam ist aber sofort begeistert von der Richterin, sie reden eindringlich über Leben und Tod, über Gedichte und Musik, es entstehen eine große persönliche Nähe und gegenseitiges Verständnis.
Zurück im Gerichtssaal, entscheidet Fiona zu Gunsten des Krankenhauses und gegen den Willen des Jungen und seiner Eltern, sie ordnet die lebensrettende Transfusion an. Doch das ist nicht das Ende: Denn Adam, letztlich doch glücklich über seine Rettung und fasziniert von Fiona, beginnt, sie wie ein Stalker auf Schritt und Tritt zu verfolgen, will gar bei ihr einziehen und sorgt so für emotionales Chaos bei der sonst so abgeklärten Juristin. Sie weist ihn ab, mit tragischen Konsequenzen, die Fiona erst recht aus der Bahn werfen.

Der Film nach dem Roman von Ian McEwan, der auch das Drehbuch geschrieben hat, ist eine gelungene Mischung aus Gerichts- und Psychodrama; was bzw. wer Kindeswohl darüber hinaus aber unbedingt sehenswert macht, ist vor allem Emma Thompson in der Rolle der Fiona Maye. Sensationell, wie sie mit präzisem Spiel und fein abgestuftem Einsatz von Mimik und Gestik den vielschichtigen Charakter einer Frau darstellt, die am Widerspruch zwischen stets Distanz wahrender Professionalität und persönlicher Emotion zu zerbrechen droht.
Auch Stanley Tucci als Fionas Ehemann und Fionn Whitehead als Adam brillieren in ihren Rollen, und so ist Kindeswohl ein bewegender Film und tolles Kino für Freunde gehobener Schauspielkunst und intelligenter Unterhaltung.

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Kindeswohl (Originaltitel “The Children Act”)
GB 2017
Buch: Ian McEwan
Regie: Richard Eyre
Darsteller: Emma Thompson, Stanley Tucci, Fionn Whitehead
Länge: 106 Minuten
Start in Deutschland: 30.08.2018

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