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Die Rückkehr in die Stadt der Schornsteine

 

Marzi_CLondonViele Jahre sind vergangen, seit Emily Laing, das einäugige Waisenmädchen, in die Geschicke und Geheimnisse der Uralten Metropole, der Stadt unter London, verstrickt war. Auch wenn sie manche dieser Geschichten nicht so einfach abschütteln kann, tut sie doch ihr Bestes, ein normales Leben zu führen und ihre besondere Gabe einzusetzen, um Kindern zu helfen. Eines Winterabends in Cambridge holen die dunklen Mysterien der Uralten Metropole sie jedoch wieder ein – denn London existiert nicht mehr, hat nie existiert. Nach den Unruhen der vergangenen Jahre und den vielen Schrecken, die die Stadt durchleiden musste, ist ganz klar, dass mit London etwas nicht stimmt. Aber was, und wie man es rückgängig machen kann, müssen Emily und ihr alter Mentor Wittgenstein herausfinden – und dabei noch das Rätsel des verwirrten Waisenmädchens Picadilly Mayfair lösen. Und so kehrt Emily zurück in die Stadt unter der Stadt, die sie eigentlich hinter sich lassen wollte …
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Hommage an Neil Gaiman

Jude Finneys Leben verändert sich ganz schön, als er eines Tages bemerkt, dass er Geister sehen kann. Die Toten sind nicht nur überraschend nett, sondern auch lebensfroher als so mancher Mensch, und so verbringt der Teenager bald regelmäßig Zeit auf dem Highgate Cemetery, flüchtet vor dem Alltag und denkt über das Leben nach. Doch eine weitere Überraschung wartet, als er eines Nachts auf dem Friedhof ein Mädchen findet, das weder tot noch lebendig zu sein scheint, und sämtliche Erinnerungen verloren hat. Gemeinsam machen sie sich auf die Suche nach ihrer Geschichte und stolpern in ein Abenteuer, das nicht nur beide ihr Leben kosten könnte, sondern auch ganz London seine Träume. 

Eine Welt, rot mit weißen Punkten

© Christoph Marzi

© Christoph Marzi

Kaum eine Beweihräucherung, die ich über Christoph Marzi noch nicht zu Papier gebracht hätte, und immer wieder bringt er mich zu neuen virtuellen Kniefällen vor seinen Ideen und seinem Talent, dem Leser mit seinen Worten Bilder in den Kopf zu malen. Anlässlich seines brandneuen Romans Die wundersame Geschichte der Faye Archer (http://www.schwarzesbayern.de/?p=3787) habe ich den Autor um ein kleines Interview gebeten.

Enchi: Beschreibe „Die wundersame Geschichte der Faye Archer“ in einem Satz.
Christoph Marzi: Eine Geschichte, die wie ein güldener Herbsttag ist. Weiterlesen

Marzi kann auch anders

Marzi_Faye-ArcherDieser Herbst in Brooklyn wird ein ganz besonderer für Faye Archer. Natürlich ahnt sie davon noch nichts, wie jeden Tag arbeitet sie im Buchladen. Sie ist gerade im Büro als ihr Chef einen Kunden bedient, und so hört sie nur wie er „Manche Geschichten sind wie Melodien“ sagt – und dann sein Notizbuch vergisst, als er geht. Sie kann sich nicht so recht erklären, wieso, doch diese Worte berühren irgendetwas in ihr. So sucht sie auf Facebook nach dem jungen Mann, in dessen Skizzenbuch der Name Alex Hobdon steht – den sie nie gesehen hat, ihn aber trotzdem nicht aus dem Kopf bekommt. Aus dem Schreiben von Emails werden bald große Gefühle, doch irgendetwas an Alex scheint ganz und gar nicht zu stimmen, und nach einer Reihe merkwürdiger Begegnungen wird Faye zunehmend sicherer, dass er nichts als ein Lügner ist. Aber manchmal nimmt eine Geschichte einen merkwürdigen Lauf, bleibt nicht auf dem erwarteten Weg und dreht sich in eine Richtung, die man für vollkommen unmöglich hält … bis man auf sein Herz hört. Weiterlesen

Odyssee und Heimkehr

Das Leben des Musikers Danny Darcy scheint ein Trümmerhaufen. Nachdem sein Bruder Colin ihm in Schottland geholfen hat, aus einem ziemlich blöden Deal herauszukommen, und das Problem mit seiner Mutter anscheinend gelöst ist, kehrt er in seine neue Heimat Minnesota zurück – nur um sich in den Scherben seiner Beziehung wiederzufinden. Kurz nachdem seine Frau Sunny ihm gestanden hat, dass sie ein Kind von ihm erwartet, trennt sie sich, weil sie ihn mit einer anderen Frau gesehen hatte, in einem Café, in dem Danny nie war. Schnell wird klar, dass dies die Lügengespinste seiner Mutter sind, die wieder einmal Gestalt annehmen und so seine Ehe ruinieren. Dannys Hoffnung, mit dem Verschwinden seiner verhassten Mutter würde auch die Lüge sterben, verrinnt schnell, nachdem Sunny sich bei ihm meldet und besorgt mitteilt, dass es „der Kleinen“ nicht gut gehe. Albträume quälen sie und ihr ungeborenes Kind. Durch einen Tipp erfährt Danny, dass er sich an die Sirenen wenden soll, denn nur ihre Macht reicht aus, um eine so starke Lüge aus Sunny zu entfernen. Doch vor diesen Frauen wird nicht grundlos gewarnt, und so wird der Ausflug in die Sümpfe Louisianas bald zur Gefahr nicht nur für Danny, sondern auch für Frau und Kind…

Lyra knüpft dort an, wo Fabula aufhörte: Die böse Mutter ist besiegt und weggesperrt, die Familiengeheimnisse gelüftet und Danny ist gerade nochmal so davongekommen. Nun beginnt der Leser zu verstehen, wieso er überhaupt versucht hat, seine Mutter loszuwerden. Es werden in Rückblicken noch einige offene Fragen geklärt, bevor die Geschichte nach den Geschehnissen in Schottland weitergeführt wird. Danny ist allein in Minnesota, seine Frau ist ausgezogen und spricht nicht mehr mit ihm, aber er hat immerhin einen Plan. Von Musiklegende Tyler Blake bekommt er den Tipp, nach New Orleans zu gehen und dort mit der Suche nach den Sirenen zu beginnen. Leider – und das ist eine der Schwächen des Buches – besteht diese Suche nicht etwa aus mysteriösen Rätseln, die es zu lösen gilt, vielmehr wird Danny noch zig Mal weiter geschickt, ganz nach dem Motto: „Ich kann dir nicht helfen, aber ich kenne jemanden, der‘s kann!“ Dadurch bekommt Lyra unnötige und auf die Dauer eher nervige Längen, da Danny und Sunny im Grunde über die Hälfte des Buches nur mehr oder weniger erfolgreich durch die Weltgeschichte irren. Als jedoch schließlich endlich die richtige Person gefunden ist, geht es Schlag auf Schlag, und einmal mehr überrascht Marzi den Leser mit seiner Fähigkeit, aus scheinbar aussichtslosen Situationen plötzlich eine schlüssige Wendung hervorzuzaubern, die alles zum Guten führt.
Danny sitzt inmitten eines Netzes aus Intrigen und perfiden Plänen seiner Mutter, deren Ausmaß erst ganz am Ende offensichtlich wird, als er erkennt, dass er ihr direkt in die Falle getappt ist. Hier wird schnell der charakterliche Unterschied zu seinem Bruder Colin (um den sich Fabula drehte) klar: Er ist hitzköpfiger, planloser, impulsiver und scheint dadurch eher dazu zu neigen, die Kontrolle über die Geschehnisse zu verlieren und ein hilfloser Spielball in den Plänen seiner Mutter zu werden. Marzi zeigt hier wieder sein Talent zum Schreiben: Fabula und Lyra sind sprachlich und stilistisch an ihre Hauptfiguren angepasst. Der ruhige, bodenständige Colin fällt stilistisch kaum auf, alles ist eher romantisch, während der aufbrausende junge Danny mit reichlich Schimpfwörtern garniert daherkommt und aus der Romantik des Öfteren auch Erotik wird.
Für Danny als Musiker darf natürlich der Bezug zu seiner großen Leidenschaft nicht fehlen, also flechtet Marzi geschickt wie immer diverse Lieder ein – hier auch erstmals selbst geschriebene (bzw. von Danny geschriebene), und zeigt dabei ein echtes Talent zum Verfassen von Songtexten. Eine Sammlung der Texte von Dannys Band „Dylan’s Dogs“ findet sich im Anschluss an die Geschichte.
Die drückend schwüle Atmosphäre der Sümpfe Lousianas mit ihren zahlreichen Gefahren – sichtbar wie auch unsichtbar – wird von Marzi magisch eingefangen und von Seite zu Seite greifbarer, als Danny und Sunny aus der Zivilisation in die gruselige Einsamkeit des riesigen Geflechts aus Brackwasser und Inseln eintauchen. Sie geraten in eine Welt, die geprägt ist von alten Voodoo-Bräuchen und Aberglaube, doch beide sind sich bewusst, dass in jeder Legende auch ein wahrer Kern steckt. Diese bedrohliche Stimmung reißt den Leser spätestens jetzt mit.

Lyra füllt alle Lücken, die Fabula gelassen hat, und bringt die Geschichte zu einem schlüssigen und glücklichen Ende, diesmal für alle beteiligten Charaktere. Marzi spielt dabei geschickt mit dem Bild, das man vom Sumpfland Lousianas hat und garniert es mit seinen zauberhaften Ideen über Geschichten, die niemand mehr erzählt, und altgriechischen Mythen. Durch die Längen am Anfang kommt dieser Teil für mein Empfinden leider etwas zu kurz. Auch ist Dannys charakterliche Entwicklung im Vergleich zu der seines Bruders aus dem ersten Teil eher übersichtlich gehalten, andererseits erwartet man von ihm auch keine besonderen Fortschritte. Alles in allem ist Lyra ein gelungener Fantasyroman und insbesondere, wenn man Fabula gelesen hat, ein Muss. Da Marzi sich selbst allerdings durch Werke wie die „Uralte Metropole“-Reihe, oder auch sein letzter Roman Grimm sehr hohe Maßstäbe setzt, wirkt Lyra im Vergleich eher durchschnittlich.

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Christoph Marzi – Lyra
Heyne, Paperback, 2009
430 Seiten
14,00€

Ebook: 10,99€

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Christoph Marzi

„Alles ist möglich,“ wiederholte der Engel, „denn dies ist London.“

 

In London häufen sich die Geschichten über einen merkwürdigen Nebel, der die Stadt heimsucht und Menschen in einen tiefen Schlaf versetzt, als Emilys Freund Adam ihr offenbart, dass er nach Paris gehen will, um dort ein erfolgreicher Musiker zu werden. Zurück in die Stadt, in der die beiden sich einst getroffen und verliebt haben – und die Emily dennoch hasst. Niemals würde sie ihn dorthin begleiten, noch dazu wo er sie derart vor vollendete Tatsachen gestellt hatte. So bleibt sie allein und verletzt in London zurück, nur um den nächsten Schicksalsschlag zu erfahren – in Moorgate Asylum ist ihre Mutter ein Opfer dieser mysteriösen Nebel geworden. Ihre kleine Schwester Mara scheint sie aus unerfindlichen Gründen zu hassen und zu ihrer besten Freundin Aurora hat sie seit Adam bei ihr ist kaum Kontakt. Seit dem Tod Micklewhites hat der arrogante Triastan Marlowe die Bibliothek übernommen und überhaupt scheint gerade die ganze Welt aus den Fugen zu geraten. Lilith sucht in der Hölle noch immer nach ihrem Geliebten, der irgendwie der Schlüssel zu den neuesten Ereignissen zu sein scheint, doch wie weitreichend und verworren die Mysterien Londons noch sein werden, das ahnt niemand…

Lumen als bombastischer Abschluss der Trilogie um Emily Laing und die Uralte Metropole könnte beeindruckender kaum sein.
Man fühlt sich direkt wie bei einem guten, alten Freund. Marzis eigenwilliger Schreibstil voller Vor- und Rückgriffe ist bereits vertraut, und doch spürt man einen ganz essenziellen Unterschied: Emily ist erwachsen geworden. Thematik und Wortwahl sind komplexer geworden, was in Lycidas noch durch die Blume gesagt wurde, wird nun gerade heraus angesprochen. Emily nimmt die Welt nicht mehr mit den Augen des kleinen Waisenmädchens wahr, das sie einst war, sie scheint wacher und aufnahmefähiger als noch im zweiten Band. Die Bedrohungen, derer sie und Wittgenstein sich erwehren müssen, sind längst nicht mehr nur übersinnlich, sondern ganz weltlicher Natur, wie sich spätestens in Prag herausstellt. So setzt Marzi seine Charaktere nun einer ganz neuen Gefühlsregung aus: vollkommener Hilflosigkeit. Dasitzen und warten, nichts in der Hand zu haben und hoffen, dass ein Wunder geschieht – in dieser Situation finden sich die Verbündeten im Kampf gegen den Untergang Londons nicht nur einmal wieder.
Trotz der sehr erwachsenen Themen, schafft Marzi es, die Magie seiner Geschichten nie aus den Augen zu verlieren. So lernen wir in der Stadt der Schornsteine „Londons Efeu“ kennen, den freundlichen Nebel, der von der Themse her die Städte durchstreift und nie weit ist, wie fast jedem Besucher dieser wundervoll mysteriösen Stadt schon einmal aufgefallen ist. In Prag (das keine eigene „Uralte Metropole“ besitzt, weil es selbst eine solche ist) begegnen Emily und Tristan einem Mann mit Papiermund, der Geschichten verkauft und in dessen Büchern eine ganz besondere Magie lebt. Diese liebevollen Details machen Lumen zum wohl zauberhaftesten der drei Bücher.
Der Leser trifft alte Freunde und neue Feinde, manchmal sogar in der gleichen Person, und muss sich einmal mehr der Herausforderung stellen, in Marzis genial gesponnenem Geflecht aus Intrigen und Lügen herauszufinden, was vor sich geht und wem zu trauen ist. Sogar längst vergessene Charaktere tauchen wieder auf, sodass am Ende doch jeder seinen Platz in der Welt und seine Aufgabe zu erfüllen hat – selbst ein kleiner, längst vergessener Waisenjunge…
In Lumen überwiegen die biblischen Motive, der ewige Kampf zwischen den Engeln, den Lucifer mit seinem Aufbegehren angefacht hat, wird schließlich von allen Seiten beleuchtet und mit viel Fantasie ausgeschmückt. Bei einem Setting in Prag dürfen natürlich auch Anspielungen an Franz Kafka nicht fehlen, besonders die Käfer-gesteuerte Bürokratie ist eine witzige Idee.
Nicht nur ist Emily erwachsen geworden, auch fast jeder in ihrem Umfeld erfährt Veränderungen. Nichts bleibt wie es scheint, und manche alten Bekannten scheinen erst jetzt zu begreifen, was das Leben wirklich bedeutet und dass nicht Rache und Missgunst die stärksten Antriebe sind, sondern nur wahre Liebe dazu führt, dass Menschen über sich selbst hinauswachsen. Und schließlich lernen alle auf die eine oder andere Art, dass alles Kostbare vergänglich ist, denn erst dadurch wird es wirklich kostbar.

Ein traumhaftes Ende für eine so vielschichtige, fantastische und hinreißende Geschichte, die bis zur letzten Seite noch Überraschungen bereithält und den Leser vollkommen in ihren Bann zieht. Ich habe jedes Wort genossen und bin jetzt, da es vorbei ist, tatsächlich ein wenig traurig, mich von Emily und Master Wittgenstein zu verabschieden.
Für Fans der „Uralten Metropole“- Reihe ein absolutes Muss.
Für solche, die noch keine Fans sind, ebenso. Nachdem sie Lycidas und Lilith gelesen haben.

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Christoph Marzi – Lumen
Heyne, Taschenbuch, 2012
798 Seiten
9,99€

Ebook: 8,99€

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Christoph Marzi

Eine Geschichte aus zwei Städten

Zwei Jahre sind vergangen in London, seit sich die Welt von Emily und ihrer Freundin Aurora vollkommen verändert hat. Mittlerweile sind sie in einem Leben angekommen, das sie zögerlich als „Zuhause“ empfinden können – Emily wird von Master Wittgenstein väterlich (zumindest auf seine eigene, spezielle Art) aufgenommen und bildet ihre Fähigkeiten als Trickster weiter aus, und Aurora vergräbt sich in Recherchearbeit mit ihrem Mentor Micklewhite. Alles könnte verhältnismäßig normal sein, wäre da nicht die Uralte Metropole, in der sich mal wieder Unheil ankündigt. Menschen verschwinden spurlos, Wiedergänger bevölkern die alten Gänge und als auf einer Reise nach Konstantinopel auch noch Aurora und Micklewhite verschwinden, gerät für Emily vollends die Welt aus den Fugen. So begibt sie sich mit Wittgenstein auf eine Reise in die Stadt der Liebe, wo sie nicht nur selbige, sondern auch Aurora wiederfindet – allerdings nicht in der Verfassung, in der sie gehofft hatte…

Man schlägt „Lilith“ auf und fühlt sich sofort wieder wie zuhause in Marzis London. Orte, Begebenheiten und sein „marzialischer“ Stil voller Vorgriffe und Rückblenden sind schon so vertraut, dass der Leser augenblicklich in die Welt der Uralten Metropole zurückfindet, und sich von ihrem gruseligen Charme einfangen lässt.
Dieses Mal rückt Marzi die biblischen Geschichten ein wenig in den Hintergrund und nimmt sich einer der wohl faszinierendsten Mythen der Welt an – des Vampirs. Geschickt verknüpft er die Legenden von gleich mehreren Kulturkreisen, denn der Vampir ist mitnichten eine mitteleuropäische Schreckgestalt. Ähnliche Wesen findet man bis in die Antike, in den Legenden aus dem Nahen Osten, Ägypten und Mesopotamien (um nur einige Beispiele zu nennen). Seit den Anfängen des Judentums taucht allerdings immer wieder eine Interpretation auf: Die Mutter der Vampire soll keine andere sein als Lilith selbst, die erste Frau Adams, die mit Dämonen eine unheilige Brut in die Welt setzte. So schlägt Marzi gekonnt Haken durch Geschichte und Mythologie, von Ägypten nach Rumänien, vom Roten Meer ins London der Neuzeit und von Fakt zu Fantasie.
Er spielt auf faszinierende Art und Weise mit klassischen Grusel-Szenarien wie dem Irrenhaus, in dem die Patienten mit Drogen und Strom behandelt werden. Ein sehr schrulliger Psychiater kämpft darum, sie zu ihrer richtigen Persönlichkeit zurückzuführen – oder etwa nicht? Man beginnt, sich verloren zu fühlen, denn nie ist genau klar, wer eigentlich welches Spiel spielt und wer auf wessen Seite steht. Micklewhite und Wittgenstein halten sich den Mädchen gegenüber bedeckt wie immer, sodass man mit Emily und Aurora mitfühlt und nie genau weiß, wie viel Information man eigentlich gerade bekommt und was man damit anfangen soll. Alles in Allem hat man durch die Tragweite der Ereignisse fast den Eindruck, dass „Lilith“ trotz der ihm eigenen komplexen Geschichte dazu dient, auf ein noch größeres, bombastisches Finale in „Lumen“ (erscheint am 12. März 2012) hinzuführen.

Natürlich dürfen, wenn Marzi ein Buch über Vampire schreibt, Anspielungen auf Vampirgeschichten nicht fehlen – ergiebig genug ist die Thematik schließlich. So finden wir natürlich den Godfather of Vampirgeschichten: Dracula, nicht nur im tagebuchartigen Schreibstil während der Aufzeichnungen von Eliza Holland, sondern auch in Elementen der Geschichte, Zitaten und sogar den Namen einiger Charaktere. Noch faszinierender sind die kleinen Anspielungen auf den zu Unrecht wenig bekannten Joseph LeFanu, der mit „Carmilla“ die erste richtige Geschichte zum Thema verfasste.

Von den Vampirmythen abgesehen, herrscht ein weiteres Bild in „Lilith“ vor: Die „Schwesternstädte“ London und Paris, die sich so ähnlich und doch so unterschiedlich sind, wofür einerseits vermutlich die Realität verantwortlich sein mag, andererseits sicherlich auch Charles Dickens‘ „Eine Geschichte aus zwei Städten“.
Allgemein ist „Lilith“ erwachsener als sein Vorgänger „Lycidas“, allerdings ohne dabei den Marzi-typischen Charme eines modernen Märchens zu verlieren. Man spürt die zwei Jahre deutlich, die Emily und Aurora von verschüchterten Waisenmädchen in selbstbewusste Teenager verwandelt haben. Die Handlungsstränge sind komplexer miteinander verwoben und bilden viele unvorhersehbare Wendungen, sodass der Leser lange nicht weiß, wie eigentlich alles zusammenpassen soll – bis Meister Marzi sein weißes Karnickel aus dem Hut zaubert und plötzlich alles Sinn macht. Seine Welt scheint düsterer zu werden, die Uralte Metropole, die ihre Fühler bis in die Tiefen der Hölle ausstreckt, ist gefährlicher und offenbart erst langsam all ihre Geheimnisse. Wo „Lycidas“ den Leser zufrieden ließ und zurück in die Friede-Freude-Eierkuchen Welt schickte – das Böse vernichtet, wenn auch mit bitterem Beigeschmack – hat man nach „Lilith“ das nagende Gefühl, dass es eigentlich erst richtig losgeht, und dass die Fantasie von Christoph Marzi wohl noch einige Überraschungen und Abenteuer bereithält.

Eine komplexe Führung durch die Weltgeschichte des Mythos Vampir, die den Leser zunehmend unsicher über Gut und Böse macht und definitiv den Appetit auf mehr Marzi anregt. Ein Augenschmaus, nicht nur für Vampirfans!

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Christoph Marzi – Lilith
Heyne, Taschenbuch, 2012
688 Seiten
9,99€

Ebook: 8,99€

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Christoph Marzi

„Alles ist möglich. Dies ist London.“

Als die kleine Emily durch einen Unfall im Londoner Waisenhaus ein Auge verliert, stirbt für sie jede Aussicht auf eine Zukunft außerhalb des Heimes. Die kinderlosen Paare wollen süße Kleinkinder, keine „einäugige Missgeburt“, und genauso wenig ein „Schokoladenmädchen“. Also fristen Emily und ihre beste Freundin Aurora in der „Anstalt für heimatlose Kinder“ ihr tristes Dasein. Bis Emily eines Tages von einer Ratte angesprochen wird, die sie bittet, ein Auge auf eines der neuen Kleinkinder zu haben – das natürlich prompt von einem Werwolf entführt wird. So entkommen die beiden den grauen Wänden des Waisenhauses – dem strengen Blick des Reverends, den Schlägen des Hausmeisters und den Besuchen der unheimlichen „Miss Snowhitepink“, die Kinder mit sich nimmt und wenn überhaupt, dann nur hoch verstört zurückbringt. Plötzlich finden die Freundinnen sich in einer Welt wieder, die sie nie zu träumen gewagt hätten: die „Uralte Metropole“, die Stadt unter der Stadt, in der sich allerhand seltsame Gestalten tummeln und ein Geheimnis nach dem anderen gelöst werden will. Können die Waisen ihren Mentoren Wittgenstein und Micklewhite trauen? Und was ist mit Lord Brewster, der Ratte? Wer ist das Kind, auf das Emily hatte aufpassen sollen, und was hat das ganze eigentlich mit ihr und ihrem Glasauge zu tun?

Meisterlich entführt Marzi den Leser in eine Welt, die an märchenhaften Mysterien und Fantasie kaum zu überbieten ist. Die Uralte Metropole ist ein Gewirr aus Geheimnissen, Intrigen und machtpolitischen Spielchen, in dem das einzelne Leben nur wenig Wert hat. Und mitten drin zwei elternlose Mädchen, die nur mit großer Mühe herausfinden, was all die Erwachsenen eigentlich im Sinn haben.
London ist gekonnt und detailliert beschrieben, was der Geschichte für Kenner der Stadt ein vertrautes Gefühl vermittelt (auch wenn ich persönlich es merkwürdig finde, dass man hier ständig nur Kräutertee trinkt!), außerdem erinnert das britische Setting zuweilen auf charmante Art an Harry Potter. Davon abgesehen baut Marzi, geschickt wie immer, eine Fülle an Anspielungen auf Literatur, Musik und Film ein, die dem Roman und vor allem den handelnden Personen eine erstaunliche Tiefe geben. Es fallen Zitate aus Dracula, Sherlock Holmes, Faust und diverser elisabethanischer Lyrik. Sogar ganze Personen sind angelehnt an die Großmeister der englischen Literatur und Filme, so treffen wir doch auf den bezaubernd schönen Dorian und zwei Jäger mit bemerkenswerter Ähnlichkeit zu Rowan Atkinson.
Auch antike Mythen werden von Marzi eingeflochten, scheinen sich in Reihe und Glied anzuordnen, um sich logisch und sinngemäß in seine Geschichte einzureihen, egal aus welcher Epoche oder Kultur sie auch stammen. Jüdische Sagen treffen alttestamentliche Bösewichte, mit einem Hauch griechischer Mythologie garniert und den Geschichten der Moderne abgerundet. In London tummeln sich nicht nur Elfen, Werwölfe und Irrlichter, sondern sogar Engel und vergessene Götter haben ihren Weg in die Uralte Metropole unter der nicht ganz so alten Metropole gefunden. Und hier unten irgendwo, so munkelt man, sollen sich sogar noch wesentlich ältere und mächtigere Wesen herumtreiben, als die Protagonisten sich vorstellen können…
Den Mädchen, und mit ihnen dem Leser, wird im Lauf der Zeit klar, dass es in dieser Welt weder „Gut“ noch „Böse“ gibt, nur ein breites Spektrum an Graustufen. Vertraute werden zu Verrätern, im Feind scheint doch etwas Gutes zu sein, nicht einmal sich selbst kann man vollends trauen. Nur eins ist klar: Emily und Aurora würden immer zusammen bleiben. Oder? Letztendlich werden sich die Mädchen doch nur immer wieder bewusst, dass sie nichts als kleine Kinder in einer Welt sind, in der die Erwachsenen rücksichtslos nach Macht streben, und selbst die Engel scheinen nicht das zu sein, was sich ein Waisenkind darunter vorstellt.

Lycidas wird vom Ich-Erzähler Wittgenstein erzählt, der sich Emilys nach ihrer Flucht aus dem Waisenhaus annimmt. Dennoch springt Marzi, wo es nötig wird, in einen allwissenden Erzähler über, allerdings immer im Stile Wittgensteins, der seine Erlebnisse in diversen Rückblenden und Vorgriffen schildert. In diesen Stil muss man sich ein wenig einlesen, letztendlich gewöhnt man sich aber schnell und zumindest ich habe großen Gefallen daran gefunden, da sich über ganze Handlungsbögen hinweg der Kreis wieder schließt und letztendlich so die Quintessenz des Buches unterstrichen wird: „Zufälle gibt es nicht!“
Der erste Teil der „Uralte Metropole“ – Reihe besteht im Grunde aus einer Trilogie, mit dem typischen Aufbau des einleitenden Buches mit kleinem Showdown, ruhigem Zwischenteil, der vor allem der genauen Skizzierung der Charaktere dient, und großem Finale im dritten Teil. Marzi spielt hier geschickt mit Vor- und Rückgriffen, stets so subtil, dass er den Leser in ein regelrechtes Déjà-Vu drängt. Oft bemerkt man die eigentliche Handlung kaum, denn er versteht es prächtig, falsche Fährten zu legen und die Aufmerksamkeit genau so lange auf ein Thema zu richten, bis man es für wichtig hält, nur um dann an einem anderen Handlungsstrang weiter zu arbeiten.
Lycidas hat mich von der ersten Seite an gefesselt und nicht mehr losgelassen. Die geschickten Kapiteleinteilungen tragen dazu bei, dass man das Buch einfach nicht aus der Hand legen möchte, und die Geschichte ist zu fantastisch und gekonnt konstruiert, um Langeweile aufkommen zu lassen. Marzi ist ein Meister der Anspielungen und des organischen Erzählens, jede Anlehnung wird absolut nahtlos eingefügt und alles hinterlässt den merkwürdigen Eindruck, als könne es wirklich so sein. Trotz seines Hangs zu jugendlichen Protagonisten driftet Lycidas nie in die Sparte Kinderbuch ab, sondern zeigt schlicht die Hilflosigkeit der Unschuldigen in der heutigen, von Machtgier zerfressenen Welt.
Ein echtes Highlight der modernen Fantasy-Literatur!

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Christoph Marzi – Lycidas
Heyne, Taschenbuch, 2011
862 Seiten
9,99€

Lycidas bei Heyne

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Christoph Marzi