Zeitlose Juwelen

Boytronic_Jewel_1500pxBoytronic – wer bei diesem Namen keine feuchten Augen bekommt, ist kein echter Synthie-Fan. „You“ und „Luna square“ vom Kultalbum The Working Model sorgen auch nach Jahrzehnten immer noch für volle Tanzflächen, und auch das zweite Album The Continental ist legendär. 1983 von Holger Wobker und Peter Sawatzki in Hamburg gegründet, durchlebt die Band in den folgenden Jahren und Jahrzehnten allerdings eine wechselvolle Geschichte, nach zwei veröffentlichten Alben gibt es Probleme mit dem Bandnamen bzw. der Besetzung, es erscheinen zwar Tonträger, doch erst ab 2002 ist auch Holger Wobker wieder mit an Bord, wenn auch ohne Peter Sawatzki, der mittlerweile gestorben ist. Die beiden Erfolgsalben der ersten Bandphase werden wiederveröffentlicht, mit Dependence bringt man sogar neues Material heraus, das jedoch die Erwartungen nicht erfüllt. Die Band zerbricht erneut, und so ist es ein kleines Wunder, dass jetzt mit Jewel tatsächlich eine neue Platte in den Läden steht. Für den Gesang haben die derzeitigen Mitglieder Hayo Lewerentz und Ingo Hauss mit James Knights zusammengearbeitet, und die Fans der ersten Stunde fragen sich jetzt natürlich, ob man an die alten Heldentaten anknüpfen kann.

Schon nach der ersten Hälfte von „Time after midnight“ ist klar, dass man sich keine größeren Sorgen machen muss. Der Song entführt einen sofort wieder zurück in die glorreichen Achtziger, die Zeit der großen Synthiepopsongs, ohne im Geringsten alt zu klingen. Der Refrain bohrt sich sofort ins Gedächtnis, die Füße zucken, und James Knights‘ Gesang passt astrein. Weiter geht die zeitlose Zeitreise mit „The universe“. Auch hier hat man, bei etwas gefälligeren, radiotauglicheren Melodien, wieder dieses wohlvertraute Gefühl, daheim in der Synthiepopwelt zu sein. „Mad love“ ist wieder etwas kantiger, tanzflächenorientierter ausgefallen, fast schon experimentell, was dem Sound sehr gut zu Gesicht steht. „Share“ ist ein eindringlicher Seitenhieb auf die allgegenwärtige Kultur des Teilens aller möglichen Dinge in den sozialen Netzwerken. Das gab es in den Achtzigern noch nicht, also schnell zurückgereist mit „My baby lost its way“, komplett mit hypnotischer Keyboardsequenz im Hintergrund und den sonstigen Trademarks dieser Zeit. „Jewel“ könnte für Depeche-Mode-Fans zu einem Juwel werden, eine getragene, mit orchestralen Elementen unterlegte Synthiehymne, bei der James Knights stimmlich voll und ganz überzeugt. Für mich hart an der Grenze zum Kitsch, aber mit schönen Details. Auch „The dark side“ wildert ein wenig in DepecheMode-Gefilden und fällt für mich damit ein bisschen ab, kann aber immer noch mit genug Eigenständigkeit und schönen Melodien überzeugen. Ich fühle mich bei „Free to love“ wieder wohler, es wird wieder schneller und tanzbarer, ein Song, der sich schön aufbaut und trotzdem eher in den Molltönen bleibt. Genau das, was ich an gutem Synthiepop so mag, dieser Hauch von Melancholie, der die ganz großen Songs umweht. „Big hands for dreamers“ schreit geradezu nach großen, ausladenden Gesten auf der Bühne, analog zum leidenschaftlichen Gesang – hier ist ganz eindeutig wieder Hymnenalarm. „Disco City“ ist eine wilde Synth- und Keyboardorgie mit Vocoder-Stimme, die auch als Filmmusik hervorragend funktionieren könnte. Zwar ohne dieses ganz bestimmte Boytronic-Gefühl, aber mit viel Nostalgiepotenzial.
Der letzte Song des Albums sticht erst einmal etwas heraus, da er ein Cover ist: „New year’s day“ von U2. Eine ungewöhnliche Wahl? Ja, schon irgendwie, aber mit leicht kraftwerkigen Keyboards im Hintergrund und James‘ Stimme gelingt der Spagat, den Song sowohl nach Boytronic 2017, als auch nach U2 klingen zu lassen. Für mich als Nicht-U2-Fan ist das Lied damit zum ersten Mal richtig gut hörbar, aber ich denke, dass auch ausgewiesene Fans der Iren gut damit leben könnten.

Boytronic 2017 – das sind drei Männer, von denen keiner zur legendären Originalbesetzung von 1983 gehört, zwei von ihnen sind parallel erfolgreich mit dem Techno-Projekt U96, James Knights hat ebenfalls seine eigenen Projekte. Ist das wirklich nicht nur ein Abklatsch alter Heldentaten? Nein, ganz und gar nicht. Das Album klingt definitiv nach Boytronic, bei manchen Songs fühlt man sich tatsächlich wie in einer Zeitmaschine, ein paar Neuerungen und Sounderweiterungen sind aber natürlich auch vertreten. Eine runde Sache also und für Synthiefans ein echtes Highlight in diesem Herbst. Zumal die Formation in dieser Konstellation auch endlich live auftreten wird (bzw. dies schon getan und sich dabei wohl sehr gut geschlagen hat).

Anspieltipp: Time after midnight, Free to love

:mosch: :mosch: :mosch: :mosch: :mosch2: mit Tendenz zu fünf

Boytronic: Jewel
Oblivion, 03.11.17
Länge: 55 Minuten
Kaufen: € 16,45 bei POPoNAUT 

Tracklist:
1. Time after midnight
2. The universe
3. Mad love
4. Share
5. My baby lost its way
6. Jewel
7. Dark passion
8. Free to love
9. Big hands for the dreamers
10. Disco city
11. New year’s day

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