Zeit und Veränderung

verdigrisVerdigris ist eine leuchtende Patina, die durch Witterungseinflüsse auf Kupfer entsteht – ein sanfter Farbton zwischen Grün und Blau – eine Farbe mit unzähligen Nuancen, die aus Veränderung entsteht. Während Ben Chatwin auf seinem letzten Album The Hum mit Geräuschen experimentiert, die für das menschliche Gehör nicht mehr wahrnehmbar sind, hat er mit Verdigris ein lebendiges, kontrastreiches und emotionales Album geschaffen, das auf den Konzepten von Zeit und Veränderung basiert. So wie sich die Patina auf Kupferdächern im Laufe der Zeit entwickelt und eine dünne Schicht auf der Oberfläche bildet, fügt Ben Chatwin seinen Musikstücken auf Verdigris neue Schichten und Ebenen hinzu, Layer mit strukturellen Körnungen, die den Klang umhüllen, von Rauschen durchtränkte Schichten und Texturen, die mikroskopisch kleine Klangpartikel in Bewegung halten.

Das Album beginnt mit einem elektronischem Rauschen, das sich zu oszillierenden Rhythmen entwickelt, die sich verschieben und überlagern – mit Spuren und Rissen an der Oberfläche, die eine rohe und entfesselte Energie freisetzen und dem Industrial-Sound von „Collapsing in feedback“ eine weitere schimmernde Dimension verleihen. Auch im folgenden Track „Sawtooth“ ist Ben Chatwins stetige Suche nach neuen experimentellen Klangwelten weithin hörbar. Er erforscht verschiedene Genre, lässt sich von unzähligen Quellen inspirieren und kreiert mit seiner Musik einen neuen, ganz eigenen Stil. Scharfe, sägende Beats und ruhelose Verzerrungen prägen diesen lodernden und hypnotischen Track. Die eruptive Dynamik scheint sich grenzenlos auszubreiten, während im Hintergrund ein zartes Glockenspiel in atmosphärische Phasen zerfällt. Ein wunderschöner Kontrast!

In „Dolmen“ entwickeln sich gedämpfte Muster und verlangsamen die Dinge etwas. (Ge)Schichten entfalten sich, verschwinden und bewegen sich im pulsierenden Rhythmus zwischen Vergangenheit und Zukunft. Licht bahnt sich seinen Weg an die Oberfläche, um ein greifbares Gefühl von Hoffnung zu destillieren – ein unglaublich schöner Song, in dem man endlos verweilen möchte. „Pic Iron“ entwickelt sich zu einem treibenden Track und ist mit einer spürbaren Elektrizität aufgeladen, die in widerhallenden Schichten zwischen Augenblicken der Stille schwingt. Der Song ist in Bewegung und Veränderung, und auch nach mehreren Hördurchgängen gibt es in diesem komplexen Klanguniversum immer wieder neue und faszinierende Details zu entdecken.
Der rhythmische und bissige Sound von „Petroglyphs“ gibt der Verschmelzung höherer Töne freien Lauf, die sich nahtlos in die scharfkantigen Segmente des driftenden Rhythmus einfügen. Die Klänge eskalieren euphorisch, bevor sie sich in elektronische Stille auflösen und das berührende „Ecology of fear“ einleiten. Das Tempo ist jetzt sanfter, in manchen Momenten nahezu abwesend, und macht einer melancholischen Atmosphäre Platz, die nicht mehr loslässt. Während sich flüchtige Harmonien aus bewegter Elektronik entfalten, werden Schichten tieferliegender Texturen freigelegt, die sanft an die Oberfläche gleiten und Raum und Zeit vergessen lassen. Ben Chatwin gelingt es mühelos mit seiner Musik unterschiedliche Stimmungen zu erzeugen. Wenn die rhythmische Dynamik nachlässt und verglüht, bleiben die Kompositionen des schottischen Künstlers nicht weniger fesselnd und eindringlich. Das darauffolgende „Chorale“ entwickelt sich aus dem wellenartigen Fluss atmosphärischer Klänge und speist sich aus zahlreichen Details und Kontrasten. Um ein Gerüst aus warmen Sounds bewegen sich bearbeitete Chor-Samples, die die Vergangenheit hörbar machen – vertonte Zeit, die wie ein zusätzliches Instrument wirkt und mit jedem weiteren Rhythmus im Hintergrund verblasst.
Verdigris findet mit „Elegy for all we lost“ einen intensiven Abschluss. Es ist ein Song mit ergreifender Melancholie, der mich an die traurig-schönen Melodien von „Divers in the water“ (Staccato Signals) und „Lost at sea“ (Drone Signals) erinnert. Wellen glühender Dunkelheit berühren die Vergangenheit und lassen die Gedanken kreisen. Momente, in denen Stille besonders greifbar wird. Erinnerungen. Zeit und Veränderung. Ben Chatwin gelingt es, alles zu verweben und uns mit Hoffnung zurückzulassen, auch wenn wir uns verloren fühlen. Was für ein fantastisches Album!

Eine neue Veröffentlichung von Soundtüftler Ben Chatwin bedeutet immer auch das Ausloten neuer Klangspektren und eine Erweiterung des Sounds. Jedes Album enthält neue Elemente, Themen, Facetten und Details, während die ursprüngliche Atmosphäre der Alben lebendig in Erinnerung bleibt. Die bisherigen Veröffentlichungen sind alle großartig und eindringlich. Verdigris führt diese spannende Entwicklung weiter und ist das bislang kraftvollste und beste Werk von Ben Chatwin. Ein wunderschönes Album und eines der schönsten Hörerlebnisse des Jahres, das sich Fans elektronischer Musik nicht entgehen lassen sollten.

Ben Chatwin: Verdigris, Vö. 22.03.2024
Digital Album: Download £ 8 GBP (oder mehr)
CD/Tape: £ 10 GBP (oder mehr)
erhältlich über Bandcamp

Tracks
1. Collapsing in feedback
2. Sawtooth
3. Dolmen
4. Pig iron
5. Petroglyphs
6. Ecology of fear
7. Chorale
8. Elegy for all we lost

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