„Ich übe noch an meinen langen Ansagen.“

Der luxemburger Musiker Jérôme Reuter ist seit 2005 mit Rome musikalisch unterwegs und im Bereich des Neofolk und Martial Pop zu Hause. Dabei verarbeitet er oft sozialkritische bzw. historische Themen wie beispielsweise den spanischen Bürgerkrieg auf dem Album Flowers from exile oder mit A passage to Rhodesia den rhodesischen Bürgerkrieg. Chansonnier Jaques Brel und Leo Férré gehören zu seinen wichtigsten Einflüssen, und so bezeichnet er seinen Stil auch als Chanson Noir. Noch kurz vor Ausbruch des Krieges hatte er in der Ukraine ein Konzert gespielt, und die grausamen Ereignisse danach haben ihn nicht losgelassen. Nicht nur hat er online Solidaritätskonzerte gespielt, für die er Morddrohungen erhalten hat. Mit Gates of Europe hat er sogar ein ganzes Antikriegs-Album aufgenommen und ist der erste ausländische Künstler, der in die Ukraine gereist ist, um dort komplette Konzerte zu spielen. Vor dem Hintergrund sind wir natürlich mehr als gespannt, wie die Show heute ausfallen wird.

DSC_7346Beim Betreten des Backstage Clubs fällt als Erstes die breite Merchandise-Wand auf. Da wurde von Rome ordentlich aufgefahren. Es ist aber auch eine Spendenbox zugunsten der Ukraine-Hilfe dabei, und ein Teil der Merch-Verkäufe wird da sicherlich auch drin landen. Die halbe Stunde bis zum Showbeginn überbrücken wir mit Smalltalk, denn einige Gäste haben wir lange nicht gesehen. Auch der Balkon ist heute geöffnet, und als pünktlich um 20:00 Uhr als Intro „Hey, plyve kacha“ von Pikkardiyska Tertsiya läuft, ist der Laden gut gefüllt. Pikkardiyska Tertsiya ist eine 1992 in Lviv gegründete A-Capella-Gruppe, die traditionelle ukrainische Volkslieder interpretiert. Schwermütig wird so auf das Konzert eingestimmt.
Schließlich betritt Jérôme Reuter leise die Bühne, zusammen mit Yann Dalscheid, der sogleich seinen Platz hinter dem rechten der beiden identisch wirkenden Drumsets einnimmt. Mit „The gates of a lifetime“ stimmt Jérôme direkt das erste Stück aus dem neuen Album an. Beim folgenden „Families of Eden“ stehen beide an den Drums, wobei die große Basstrommel interessanterweise jeweils mit einer Rumba geschlagen wird. Das macht schon mächtig was her, doch im direkten Anschluss fallen bei „Eagles of the Trident“ die Drums noch einmal deutlich heftiger und martialischer aus. Das gibt auch ordentlich Applaus, während dem Jérôme wieder zur Gitarre wechselt. Das ruhige „Our Lady of the Legion“ ist ein starker Kontrast zum Vorgänger, leider ist die Stimme dabei anfangs ein wenig übersteuert und geht etwas unter im deutlichen Nachhall der Basstrommel, der das Konzert über durchgängig prägnant bleibt. Mit der Zeit klingt der Gesang besser, und am Ende wird schließlich das Publikum begrüßt: „Guten Abend!“ Über das intensive „Celine in Jerusalem“ und „The brightest sun“ kommen wir zu „Sons of Aeeth“, das wieder an den Drums bestritten wird. Yann singt hier den Refrain mit, und das Stück löst regelrecht Schauer aus.

DSC_7421Vom Band wird „L’homme révolté“ eingespielt, bevor es mit „Solar Caesar“ und „Neue Erinnerung“ weitergeht. Ein bestechender Marschrhythmus bestimmt „Kali Yuga über alles“ und erzeugt eine dramatische Stimmung. „No second Troy“ folgt ohne Pause und fällt dafür etwas beschwingter aus, und Jérôme bedankt sich schlicht für den Beifall: „Vielen Dank.“ Das folgende „Hearts mend“ interpretiert er mit überraschend energischer Stimme, bevor „Ächtung, baby!“ heute leider ohne Alan Averill auskommen muss, aber trotzdem zum Schwelgen einlädt. Irgendwie beunruhigende „spooky sounds“ begleiten nun „Der Wolfsmantel“. Die Drums haben wieder sehr viel Hall und könnten fast einen Trance-Zustand hervorrufen, was aber von der Dramatik in Jérômes Stimme verhindert wird, der mensch einfach folgen muss. Dementsprechend laut ist jetzt auch der Beifall. Das ruhige „Going back to Kyiv“ ist dazu wieder ein starker Kontrast, und blaues und gelbes Licht untermalen nun passend die Bühne. „Who only Europe know“ steht dem in nichts nach. Anschließend bedankt sich Jérôme und kündigt schon mal die letzten Songs an, was im Publikum natürlich auf wenig Gegenliebe stößt. Dafür fällt das nun folgende „Uropia o morte“ besonders leidenschaftlich aus. Bei dem beschwingten Refrain „Lei-lal-a-lei“ lächelt der sonst stets konzentriert und ernst drein blickende Yann, und auch das Publikum lässt sich verzaubern und singt mit und jubelt hinterher. „Vielen Dank! Dankeschön!“ Jérôme wirkt fast etwas überrascht. „One lion’s roar“ ist natürlich bestens bekannt und wird wieder mitgesungen, während der Song teilweise nur mit Rassel begleitet wird und so eine intime Atmosphäre erzeugt. „Yann Dalscheid at the drums!“, stellt Jérôme zwischendurch den zweiten Mann vor und bedankt sich auch namentlich beim Merchandiser und Tontechniker. Am Ende bedankt er sich noch einmal mit „Vielen, vielen Dank!“ und verschwindet blitzschnell.

DSC_7476Klar, dass da alle noch eine Zugabe erwarten, und lange müssen wir dafür auch nicht klatschen. Jérôme kehrt zunächst alleine zurück und erklärt: „Ich übe noch an meinen langen Ansagen, und dies ist auch so eine.“ Damit löst er erst Gelächter aus, und im Anschluss beim wahnsinnig intensiv wirkenden „The ballad of Mariupol“ eine Gänsehaut. Nur Akustikgitarre und seine Stimme, und es ist mucksmäuschenstill. Und es stecken stecken so viele traurige Ereignisse dahinter. Außerdem verspüre ich starke Vibes von Johnny Cash, weshalb mir der Song besonders gut gefällt. Nun folgt ein neuer Song, der an dieser Stelle mangels besseren Wissens (es liegt keine Setlist aus) „Prometheus“ genannt wird. „Vielen Dank! Dankeschön!“, bedankt sich Jérôme und verweist auf die Spendenbox, die beim Merchandise steht. „Wir werden das natürlich wieder persönlich abgeben! Vielen Dank!“ Passenderweise folgt nun „Yellow and blue“, und auch die Bühne ist dazu in gelbes und blaues Licht gehüllt, um den Song zu unterstreichen. „Slava Ukraini!“, ruft er zwischendurch und erntet dafür Szenenapplaus. „One fire“ lässt die Leute wieder begeistert mitsingen, und Jérôme lässt sich unvermittelt hinreißen: „Yann on drums!“ Den dazu einsetzenden Beifall lenkt dieser geschickt in rhythmisches Klatschen um. „Vielen, vielen Dank! Dankeschön!“, heißt es, nachdem der Song ausgeklungen ist. Die beiden schauen sich an, gehen oder nicht? Nein, stattdessen folgt „Swords to rust – hearts to dust“, und zu guter Letzt stellt Yann „Mr. Jérôme Reuter“ vor. Nach dem Applaus nehmen die beiden den Song noch einmal auf, bevor das Konzert wirklich endet. Ein schlichtes „Tschüss!“ von Jérôme, die beiden winken und verbeugen sich und werden vom Publikum verdientermaßen gefeiert.

Fazit: Das ist eine ganz neue Seite, die Jérôme Reuter heute mit Rome gezeigt hat: Energisch, leidenschaftlich – und manchmal auch spürbar bewegt. Das hat mir richtig gut gefallen. Er ist zwar grundsätzlich ein ruhiger und introvertierter Typ, der lieber seine Songtexte sprechen lässt. Trotzdem ist die Veränderung deutlich erkennbar. Da hat sein Engagement für die Ukraine einiges bewegt, nicht nur für die Menschen vor Ort, sondern auch in ihm selbst.
Der Auftritt an sich ist heute stark rhythmusbetont und teilweise recht wuchtig und martialisch, kein Wunder bei der Doppelbesetzung der Drums, aber eben auch durchaus passend für Martial Pop. Jérôme und Yann ergänzen sich perfekt, da kommt eine Menge Energie rüber. Somit ist es alles andere als langatmig, was Neofolk durchaus manchmal sein kann, wenn nur Lagerfeuerromantik verbreitet wird. Die begleitende Lichttechnik ist darüberhinaus perfekt abgestimmt. Es sind eigentlich nur ein paar Strahler, die aber die Songs eindringlich untermalen und die Atmosphäre enorm intensivieren. Weniger ist manchmal eben mehr. (Ich stimme in allem vollumfänglich zu. Ein magischer, intensiver Abend, zum Schwelgen und zum Nachdenken. torshammare)

:mosch: :mosch: :mosch: :mosch: :mosch:

Setlist:
Intro „Hey, plyve kacha“ (von Pikkardiyska Tertsiya)
The gates of a lifetime
Families of Eden
Eagles of the Trident
Our Lady of the Legion
Celine in Jerusalem
The brightest sun
Sons of Aeeth
L’homme révolté (vom Band)
Solar Caesar
Neue Erinnerung
Kali Yuga über alles
No second Troy
Hearts mend
Ächtung, baby!
Der Wolfsmantel
Going back to Kyiv
Who only Europe know
Uropia o morte
One lion’s roar

The ballad of Mariupol
„Prometheus“ (neuer Song)
Yellow and blue
One fire
Swords to rust – hearts to dust

Bilder: torshammare

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