Zum Sterben ist die Welt zu schön

Zum 25. Geburtstag im Jahre 2020 wollten In Extremo uns ihr Album Kompass zur Sonne schenken. Doch ein uns allen bekanntes Virus hat den Zeitplan durcheinander gebracht. Womöglich liegt es daran, dass sie dieses Album nicht genau auf den 30. Geburtstag legen, sondern etwas davor erscheinen lassen: den Wolkenschieber. Was ist in der Zwischenzeit denn alles passiert? Die Sieben wollten doch zur Sonne? Nun ist ein Wolkenschieber notwendig?

Erst einmal ist aus dem Septett, den langjährigen sieben Musikerkollegen, den „Sieben Köchen“, ein Sextett geworden. Boris Pfeiffer trat 2021 aus der Band aus und verstarb 2022. Das macht etwas mit einem. Dann sind weltpolitisch derzeit so viele Unerträglichkeiten auszuhalten, da braucht‘s schon wen, der die dunklen Wolken zur Seite schiebt.
In Extremo sind vielfältig wie immer. Sie können feiern, saufen, wütend sein, fluchen und schimpfen, sie können aber auch immer noch Balladen, feine Texte und berührende Melodien. Dazu haben sie sich viele Gastsänger eingeladen: einen Teil der Kelly Family, Henry M. Rauhbein, Björn Both von Santiano, Oliver Satyr von Faun und den alten Rübezahl Joachim Witt.
Da bin ich gespannt, was diese Vielzahl an Gästen und Vielfalt an Musikgenres aus dem Album macht!

Als erstes gibt es „Wolkenschieber“. Es ist ein Trinklied, das sich schön reimt. Hier gibt es ein hübsches kleines Video dazu, das mich irgendwie an Kate Bushs „Running up that Hill“ erinnert, ein wenig im Steampunk gehalten, eine Geschichte erzählend. Hier geht es um jemanden, der vor ungefähr 150 Jahren ein Mittel gegen alles Ungute hatte: den Wolkenschieber. Sowas wie der Klosterfrau Melissengeist in späteren Jahren. Alkohol hilft gegen alles (momentan zumindest)! „Weckt die Toten“, ein ganz alter Titel, wird hier neu aufgenommen, mit Unterstützung von Henry M. Rauhbein. Entzückend dazu der Videoclip im Stil von Stand by me: Sechs Kids gehen eine staubige Straße entlang, eines pfeift so ein wenig den Refrain. In einer leeren Halle sehen sie staubige Instrumente. In dem Moment, wenn sie danach greifen, wecken sie anscheinend die Toten. Fast ein Hardrock-Song, gut gemacht, und man ist wach! Mit „Katzengold“ haben sie eine Nummer veröffentlicht, die auf die aktuelle politische Situation anspielt. Obwohl sie eigentlich keine politische Band sind, haben sie hier einen Song gemacht, der auf die „Dumm Dumm Dummheit“ des blaubraunen Sumpfes anspielt. „Geschenkt ist geschenkt“ oder der Bonustrack „Schweine“ gehen in dieselbe Richtung. Für „Feine Seele“ haben sie sich Oliver Satyr von Faun geholt. Ihnen fehlte ohne Boris Pfeiffer die Nyckelharpa im Gesamtkonzept. In dem Song verarbeiten In Extremo den Tod geliebter Menschen, auch den der Eltern. „Ich bleib dein Kind und will wachsam sein. Schlafe gut, du feine Seele“. Berührend, tragisch, melancholisch, wunderschön. Fast wie aus dem Soundtrack von Bridgerton, märchenhaft und mit den dezenten Singstimmen im Hintergrund etwas ganz besonderes. Auch „Des Wahnsinns fette Beute“ mit Gast Joachim Witt möchte ich hervorheben. Eine brachiale Soundwalze fräst sich durch die Gehörgänge. Die ehemalige Neue Deutsche Welle-Ikone Joachim Witt erkennt man gleich an seinen sonoren Vocals. Er bringt eine ganz andere, schöne Klangfarbe mit rein. Natürlich klingt er wie immer in letzter Zeit ein bisschen wie ein unheimlicher Märchenonkel, er singt nicht, er erzählt seine Geschichten. Andere Stücke haben sich auch nach mehrmaligem Anhören nicht so in mein Ohr geschlichen. Zu laut, zu stampfig, zu rockig für mich. „Olafur“ beispielsweise ist ein Gegenstück dazu, mittelalterlich, gesungen auf Isländisch. Aus einer einfachen alten Sage, zu der früher ein einfacher Fischertanz in Holzschuhen getanzt wurde, entwickelte sich eine ganz feine Sache. Es beginnt mit Schalmeien, und wenn Micha zum Brummen ansetzt, macht es gar nichts, dass man den Text nicht versteht: Er ist dennoch Vikings-tauglich!

Der 13. Longplayer Wolkenschieber soll trübe Gedanken in dunklen Zeiten vertreiben, soll für neuen Mut, Hoffnung und gute Laune sorgen. Ich meine, das ist ihnen gelungen.

Das Album Wolkenschieber erschien am 13.09.2024 als Digisleeve und schwarzer Doppelvinyl mit 12 Tracks und einer limitierten CD Deluxe Version inkl. zwei Bonustracks im Kreuzdigi mit 20-seitigem Booklet.

Wer von dem Silberling noch nicht genug hat, es gibt eine „Wolkenschieber-Tour“ im Winter 24:

15.11.2024 Saarbrücken / Garage
16.11.2024 CH-Pratteln / Z 7
22.11.2024 Rostock / Moya
23.11.2024 Dortmund / Winterlights
29.11.2024 Berlin / Columbiahalle
30.11.2024 Bremen / Pier 2
06.12.2024 Nürnberg / KIA Metropol Arena
07.12.2024 A-Wien / Gasometer
12.12.2024 Bielefeld / Lokschuppen
13.12.2024 Hannover / Swiss Life Hall
14.12.2024 Dresden / Alter Schlachthof
20.12.2024 Leipzig / Haus Auensee
21.12.2024 Stuttgart / Porsche Arena
27.12.2024 München / Zenith
28.12.2024 Wiesbaden / Kulturzentrum Schlachthof
29.12.2024 Erfurt / Messehalle
30.12.2024 Köln / Palladium

Anspieltipps: Olafur, Feine Seele

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In Extremo: Wolkenschieber
Vertigo Berlin (Universal Music), Vö. 13.09.2024
CD 17,99 €, MP3 10,99 €, Vinyl 38,99 €

Tracklist:
01. Wolkenschieber
02. Weckt die Toten (feat. Henry M. Rauhbein)
03. Katzengold
04. Olafur
05. Unser Lied (feat. Björn Both von Santiano)
06. Feine Seele (feat. Oliver Satyr von Faun)
07. Blutmond
08. Des Wahnsinns fette Beute (feat. Joachim Witt)
09. Geschenkt ist geschenkt
10. Aus Leben gemacht (feat. Joey & Jimmy Kelly)
11. Komm, lass die Welt sich weiterdrehen
12. Terra Mater
13. Schweine (Bonustrack)
14. Das Totenschiff (Bonustrack)

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