Alles beginnt mit den Kakerlaken
Fairy Tale? Märchen? Die erste Märchenfigur begegnet der Leserschaft gleich zu Anfang als Rotkäppchen in Form einer schönen Mutter, die leider viel zu früh verstirbt. Charlie Reade ist sieben Jahre alt, als seine Mutter bei einem Unfall ums Leben kommt. Sein Leben ist danach nicht mehr dasselbe.
Sein Vater flüchtet in den Alkohol, und der kleine Junge muss sich um ihn und um sich selbst kümmern. Er hat große Ängste, ob er alles schafft, und eines Tages schließt er einen Pakt mit Gott. Wenn dieser ihm hilft, dann tut er auch etwas für ihn. Und man kann es glauben oder nicht, am nächsten Tag lernt sein Vater jemanden von den Anonymen Alkoholikern kennen, und beider Leben läuft wieder in eine andere Richtung. Charlie wird ein fleißiger Schüler, sein Vater ist liebevoll und fürsorglich. Zehn Jahre später fährt er wie so oft nach dem Baseballtraining am „Psycho-Haus“ vorbei, einem windschiefen viktorianischen Kasten, in dem ein alter mürrischer Mann mit seinem alten Schäferhund wohnt. Hier hört er ein Heulen und Jaulen sowie Hilferufe. Um den Mann geht es ihm gar nicht, aber der Hund erbarmt ihn. So hält er an und sieht den alten Mr. Bowditch mit gebrochenem Bein hilflos am Boden liegen. Er ruft den Notruf und kümmert sich dann um den alten Hund. Es scheint, als wäre Mr. Bowditch mit diesem ganz allein auf der Welt. Charlie kann nicht umhin, als sich um Mr. Bowditch, den er bald Howard nennen darf, zu kümmern. Radar, seine altersschwache Hündin liebt er ja ohnehin schon vom ersten Moment an. Im Laufe der Zeit lüftet Howard Geheimnisse. Er hat Gold, sehr viel Gold im Haus, das Charlie bei Bedarf zu Geld machen muss. Er hat auch einen alten Revolver, ach, eigentlich ist alles in dem Haus uralt. Charlie kümmert sich monatelang um Howard, die Hündin Radar und das alte Haus und das Anwesen. Howard geht es nach seinem Unfall schnell besser, doch ein Schicksalsschlag lauert auf ihn: Er hat Krebs und mag aber nichts mehr dagegen tun. Am Ende seines Lebens offenbart er Charlie sein größtes Geheimnis – auf einer Kassette in einem uralten Rekorder. Es gibt da eine Welt, auf die er eines Tages gestoßen ist. Der Zugang liegt ausgerechnet auf seinem Grundstück. In dieser Welt vergeht die Zeit anders als hier, und in dieser Welt könnte Charlie Radar, die schon sehr alt und schwach ist, helfen. Und hier beginnt das richtige Märchen. Wie damals die vier Kinder in den Chroniken von Narnia Zutritt durch einen Kleiderschrank zu einem Königreich in einer anderen Zeit bekamen, so tritt Charlie nun durch ein Loch im Schuppenboden und steigt viele Treppen nach unten, und am Ende kommt er auf einem blühenden roten Mohnfeld heraus. Hier geschehen Dinge und begegnen ihm Lebewesen, die alle einzeln wie Märchentitel klingen: seltsame Kerle wie Rumpelstilzchen, die Frau mit den Schuhen, die Gänsemagd, Meerjungfrauen können nicht sprechen, Erlebnisse wie aus dem Zauberer von Oz. Natürlich wäre es nicht Stephen King, wenn all das sich dann nicht doch in einen Lovecraftschen Alptraum verwandeln würde. Da sind die rattengroßen Kakerlaken noch das kleinste Übel. Charlie muss Großes leisten für seine 17 Jahre, doch die größte Herausforderung ist seine Rückkehr in sein bisheriges Leben.
Ich hatte mir über die Weihnachtsfeiertage des Altmeisters des Grauens neuestes Buch Fairy Tale vorgenommen. Geschmeidige 880 Seiten sollten hier doch zu schaffen sein. Doch es war wie so oft: Die Geschichte beginnt so detailliert, dass ich mir denke, so komme ich nie zum Ende. Doch schnell ist es eben auch wie so oft: Nach ein paar Seiten befindet man sich mitten in der Geschichte und kann das Buch nicht mehr weglegen. Im letzten Drittel war ein Handlungsstrang für mich zwar viel zu lang, aber wer Die Tribute von Panem mag oder Squid Game ertragen kann, der/die schafft das schon. Und am Ende dieses gigantischen Märchens habe ich geweint über all diese Ideen und vor Glück.
Stephen King: Fairy Tale
Übersetzung aus dem Amerikanischen: Bernhard Kleinschmidt
Heyne Verlag (14. September 2022)
Gebundenes Buch: 880 Seiten, 28 Euro
eBook: 19,99 Euro
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