Emotionales Kleinod

6-page-digipack-disc-i-midt-DigipackCD6p-8mm-Musiccode-D12 copyErst ein Jahr ist es her, dass ich die Rezension zu Abu Neins fantastischem zweiten Album II geschrieben habe (hier nachzulesen). Jetzt liegt mit III – Dark Faith bereits der dritte Longplayer der Formation aus Malmö vor. Viel ist passiert in diesem Jahr, und auch davor schon. Abu Nein sind immer bekannter geworden, haben diverse umjubelte Live-Auftritte absolviert, waren dieses Jahr auf dem WGT, dem Prague Gothic Treffen und dem NCN und sind gerade für nächstes Jahr fürs Amphi bestätigt worden. Besser könnte es kaum laufen. Eigentlich. Denn wie viele sicher wissen, hat Bandmitglied Andreas Catjar-Danielsson seit 2023 gegen eine schwere Krebserkrankung angekämpft und ist am 29. Juli daran verstorben. (hier unser Nachruf) Die Aufnahmen zu III – Dark Faith waren bereits abgeschlossen, und er konnte das Album zum Glück vor seinem Tod noch produzieren. Vor diesem Hintergrund ist das Hörerlebnis vielleicht kein einfaches, aber ganz sicher ein sehr intensives.
Der Opener „Dark faith“ leitet das Album getragen ein, nahezu instrumental, die einzigen Lyrics sind „This is my dark faith, my dark faith, this is“, die Erica, begleitet von sphärischen Synthiesounds, geradezu hypnotisch wiederholt. Die Lyrics sind gewissermaßen der Anker in diesem Song, um den die sich bei jedem Hördurchgang neu entfaltenden Soundschichten herumwellen, ihr Inhalt der Halt im Leben vielleicht? Das elektronische Flirren am Ende geht in das düstere, tieftraurige und gleichzeitig tröstliche „Hand of glory“ über, das von Ericas klarer, tiefer Stimme getragen wird. Ein Lied über die Toten, die nicht predigen, über die Suche nach dem Licht, den Worten. Ein Song über „die Toten [, die] leben, weil sie eben keine Toten sind. Wir sind Menschen. Die Toten sind Menschen“ – ein Zitat aus dem Buch Sprechfunk mit Verstorbenen von Friedrich Jürgenson. Die „Hand of glory“ oder Totenhand ist die abgetrennte linke Hand eines Hingerichteten, in die man der Überlieferung nach eine Kerze aus dem Körperfett des Toten steckte und diese den Weg leuchten sollte. Auch dieser Song wächst mit jedem Durchgang, kommt einem immer näher und näher. „Blossom“ beginnt minimalistisch und mit einem Aleister-Crowley-Zitat: „Every man and every woman is a star. Every number is infinite, there is no difference.“ Genauso minimalistisch geht es weiter, leise Gitarrentöne, ein rhythmischer Herzschlag, darin eingebettet Ericas trauriger, flehender Gesang. Kein aufblühender Song, wie man bei dem Titel vielleicht vermuten könnte, aber sehr, sehr zart, zerbrechlich und gleichzeitig stark – wie eine Blüte. Die sich vielleicht noch entfalten wird.
Das getragene, zurückgenommene Tempo wird auch bei „Stay“ beibehalten, das um den Klageruf „Stay with me. Stay! So I can be free“ herum aufgebaut ist. Gleichzeitig strahlt dieser Song bei aller Qual, bei aller vergeblichen Hoffnung auch unglaubliche Stärke und Entschlossenheit aus, was Erica stimmlich perfekt umsetzt. Mit „Unwanted“ zieht man das Tempo ein wenig an, erstmals bleibt ein Song auch unter vier Minuten, lädt geradezu zum Tanzen ein. Doch textlich hat er es in sich, er thematisiert die Hilflosigkeit angesichts von Schmerz, der zum immerwährenden Begleiter eines anderen Menschen wird, Schmerz, den dieser bekämpft und gleichzeitig annimmt – annehmen muss. Es ist leicht, hier Andreas’ Krebserkrankung hineinzuinterpretieren, vielleicht hat der Song auch noch andere Dimensionen. Jedenfalls ist er unendlich traurig und unendlich schön und endet abrupt und genau richtig mit einem Atemzug. Das nachfolgende „Hollow hills“ – ein Bauhaus-Cover – hat die Band bereits vor einigen Jahren auf Andreas‚ (C-D) Anregung hin zur Erinnerung an Sophie Lancaster eingespielt und im Januar 2021 veröffentlicht. Sophie Lancaster war eine junge Engländerin, die im August 2007 zusammen mit ihrem Freund von einer Gruppe von Jugendlichen angegriffen wurde und schließlich ihren schweren Verletzungen erlag. Das Paar wurde angegriffen, weil sie Goths waren. Die Erlöse aus den Verkäufen des Songs gingen komplett an die Sophie Lancaster Foundation. Anfang 2021 ist der Song inmitten der Corona-Pandemie vielleicht ein wenig untergegangen, und es ist gut, dass Abu Nein ihn auf das Album gepackt haben, auf das er perfekt passt. Das Cover bleibt nah an der klaustrophobischen, extrem verdichteten Atmosphäre des Originals, verstärkt diese sogar noch durch Ericas sensationellen Gesang. Ihre Stimme ist hier schneidend, teilweise fast schon jazz-artig und geht ganz tief unter die Haut. Cover sind ja immer Geschmackssache, für mich erzeugt diese Version, auch durch die Instrumentierung, noch viel mehr Gänsehaut. Die bleibt auch erst mal, denn „City of dust“ – ebenfalls schon eine Weile bekannt und wieder ein Charity-Song, dieses Mal für unter dem Krieg leidenden Kinder in Gaza – gräbt sich mindestens genauso tief ins Herz. Ein zum Weinen schöner Song, mit einem Hintergrund zum Heulen (das Leid auf beiden Seiten ist immens, und Kinder können am allerwenigsten dafür), aber auch einem hoffnungsvollen Ende: „We can win and the dust will settle, through the wreckage and the tears that fall.“
Wer jetzt noch keinen Kloß im Hals hat, bekommt ihn wahrscheinlich beim letzten und längsten – fast zwölf Minuten! – Song des Albums, „Wir leben“. Ein Song, der Unmengen verschiedener Emotionen in sich vereint, von abgrundtiefer Trauer über Hoffnungslosigkeit bis hin zu dem Entschluss, das Leben zu leben und – ja, doch – auch mit Hoffnung in die Zukunft zu blicken. Dem Wissen, dass Menschen immer bei einem sind – egal ob im Leben oder im Tod. Ein Song, der den Hörer*innen einiges abverlangt, der sie aber auch mitnimmt und auffängt. Keine Sekunde zu lang ist er, nein, eher noch zu kurz, so viel will in den fast zwölf Minuten, von denen ein großer Teil einen Rhythmus hypnotisch wiederholt, gefühlt und verarbeitet werden. Bis zum Finale, in dem die großartige Maya Angelou ihr Gedicht „And still I rise“ (in einer Aufnahme aus Baltimore aus dem Jahr 1987) rezitiert. Alles wird heller, lichter, spannt den Bogen zum Eröffnungstrack „Dark faith“. Wir leben jetzt. We‘re living now. Vi lever nu.

III – Dark Faith ist ein Album wie eine Umarmung. Eine Umarmung, in die man hineinsinken und in der man loslassen, seine Gefühle zulassen darf. Eine Umarmung voller Halt und Trost im (gemeinsamen) Schmerz über die Unerbittlichkeit des Schicksals, über den nahenden Abschied. Tiefer Schmerz und Trauer durchziehen dieses Album, und wie könnten sie auch nicht. Wer die eingängigeren Düsterperlen der ersten beiden Alben erwartet hat, wird vielleicht enttäuscht sein, hier regiert ein anderes Tempo, ein anderes Bewusstsein. Einlassen muss man sich auf III – Dark Faith, manche Songs packen einen vielleicht erst nach einigen Durchläufen, vielleicht auch gar nicht. Vielleicht findet man auch überhaupt keinen Zugang zu der ganz eigenen (Erfahrungs-)Welt in diesen Songs, versuchen sollte man es aber. Immer schwerer wird das Herz im Lauf des Albums – und vor allem bei „Wir leben“ –, und gleichzeitig fühlt man sich immer reicher. So viele Emotionen werden auf diesem Album transportiert, sei es durch die Lyrics, Ericas Stimme, die Instrumentierung der vier Bandmitglieder oder durch Andreas‘ perfekt auf den Punkt gebrachte Produktion. Man kann sie gar nicht alle in Worte fassen, und wahrscheinlich fühlt, assoziiert auch jede*r etwas anderes dabei. Alles kommt hier zusammen: Leben, Liebe, Freundschaft, Trauer, Abschied, Tod. Und trotzdem scheint auch die Gewissheit durch, dass es irgendwie weitergeht. Allt kommer bli bra. Alles wird gut.
Erica Li Lundqvist, Anders Nordensson, Andreas Andersson und Andreas Catjar-Danielsson haben hier etwas geschaffen, das noch lange nachwirkt und Kraft gibt. Trotz allem Schmerz. Denn: Wir leben jetzt. Take care and control.

Anspieltipps: Hand of glory, Unwanted, Wir leben

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Abu Nein: III – Dark Faith
Progress Productions, 06.09.24
Länge: 44 Minuten
Kaufen: Bandcamp, digital 80 SEK. Poponaut, CD 12,95 € (LP blaues Vinyl 26,95 €)

(Abu Nein auf dem NCN 2024, Video von mir)

Maya Angelou „And still I rise“

You may write me down in history
With your bitter, twisted lies,
You may trod me in the very dirt
But still, like dust, I’ll rise.
 
Does my sassiness upset you?
Why are you beset with gloom?
’Cause I walk like I’ve got oil wells
Pumping in my living room.
 
Just like moons and like suns,
With the certainty of tides,
Just like hopes springing high,
Still I’ll rise.
 
Did you want to see me broken?
Bowed head and lowered eyes?
Shoulders falling down like teardrops,
Weakened by my soulful cries?
 
Does my haughtiness offend you?
Don’t you take it awful hard
’Cause I laugh like I’ve got gold mines
Diggin’ in my own backyard.
 
You may shoot me with your words,
You may cut me with your eyes,
You may kill me with your hatefulness,
But still, like air, I’ll rise.

Does my sexiness upset you?
Does it come as a surprise
That I dance like I’ve got diamonds
At the meeting of my thighs?

Out of the huts of history’s shame
I rise
Up from a past that’s rooted in pain
I rise
I’m a black ocean, leaping and wide,
Welling and swelling I bear in the tide.

Leaving behind nights of terror and fear
I rise
Into a daybreak that’s wondrously clear
I rise
Bringing the gifts that my ancestors gave,
I am the dream and the hope of the slave.
I rise
I rise
I rise.

(Zitiert von The Poetry Foundation , Copyright-Verweise siehe dort)

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