The sound of eternity

Abu Nein - II PROCD122_MP_D3Drei Jahre sind vergangen, seit das Debütalbum der südschwedischen Formation Abu Nein, Secular palms, nicht nur bei mir, sondern auch in der Darkwave-Szene allgemein mächtig eingeschlagen hat. Vor allem in Schweden, aber auch in anderen Ländern hat man sich von Erica Li Lundqvists tiefer und voluminöser Stimme und der düsterschönen Atmosphäre verzaubern lassen. Coldwave, Darkwave, Goth, Synth, mit hörbaren Referenzen an musikalische Vorbilder und trotzdem eigener Handschrift. Nicht zu vergessen der – kundige, ernstgemeinte – okkulte Hintergrund. Schon allein der Bandname ließ aufhorchen, die Mischung aus Arabisch („Vater von“) und Deutsch ist ungewöhnlich. Die Erklärung dahinter: Erica ist Islamwissenschaftlerin an der Universität Malmö, und die Idee zum Bandnamen kam ihr zusammen mit Mann und Bandkollege Anders Nordensson in Berlin, wie sie vor einiger Zeit in einem Interview erzählt hat. Secular palms hat mit Ohrwürmern wie „Rotten garden“ oder „Dying into a dance“ die Messlatte sehr hoch gelegt, und ich bin gespannt, wie das schlicht II betitelte zweite Album sich im Vergleich dazu schlägt.

Schon nach einer Minute des Eröffnungstracks „The tower“ ist klar: Es schlägt sich fantastisch. Eingeleitet wird der Song von einer Kinderstimme, die ein Gedicht auf Schwedisch rezitiert, in dem das Meer vorkommt, Schmetterlinge, zwitschernde Vögel, der Wald, die pure Idylle, bis Ericas Stimme einsetzt und sich die erste Gänsehaut breitmacht. Langsam geht es los, eindringlich, melancholisch, „the world looks different from where I stand, perception is twisted so don’t look down“ singt sie, während der düstere cold-wavige Sound ihre Stimme trägt. Verlorenheit strahlt der Song aus, aber gleichzeitig auch Wärme. Die nachfolgende Vorabsingle „Kissing the glove“ überzeugt immer noch mit ihrem fiebrigen Grundsound und Ericas hypnotischem, leicht verhalltem Gesang und klingt eingebettet in das ganze Album noch mal ein wenig anders als einzeln. Ein gnadenloser Ohrwurm, der neugierig auf den genauen Text macht (Stichwort: Left hand path) und hoffentlich die Tanzflächen einschlägiger Clubs und Partys aufmischen wird. Was für ein Kontrast ist da „I am emptiness“ (auch eine Vorabsingle), der Übergang vom entschlossenen, starken „Kissing the glove“ zu dem sehr zurückgenommenen, ein wenig traurigen und irgendwie resignierten „I am emptiness“ könnte kaum größer sein. Umso spannender ist es, sich auf die Stimmungen in diesem Song einzulassen, sie vielleicht sogar in sich selbst wiederzuerkennen. „The way you love me, the way we fight, the way you touch me, the way we cry, I am emptiness“, singt Erica, und das ist herzzerreißend. Mit „Broken without fear, I’m going down“ geht es weiter im nächsten Song „Going down“, und hier klingt Erica schon wieder sehr viel entschlossener, der düster-hypnotische Sound vermittelt genau dieses Gefühl: „Es ist nicht gut, wie es ist, aber es ist jetzt so, und ich stelle mich dem.“ Abgesehen davon schreit auch dieser Song nach der Tanzfläche. In „Under Mercury“ scheint wieder etwas mehr innerer Frieden eingekehrt zu sein, entsprechend entspannt klingt der Song und Ericas Gesang, man befindet sich auf dem richtigen Weg. „I become myself under Mercury … I’ll jump, free fall, I’ll let it go“ frisst sich in die Gehörgänge. Auch „Ways to burn“ ist ein garantierter Ohrwurm, von dem wehmütigen Theremin am Anfang über Ericas beschwörenden Gesang bis hin zu den türkischen Zeilen von Gastsängerin Gözde Duzer/Aux Animaux, die sich perfekt in den Song einfügen. Am Ende ist noch eine kleine klangliche Referenz an „Dying into a dance“ vom ersten Album eingebaut, sehr schön. Ungewohnt fröhlich, fast schon synthpoppig beginnt „Black thistle“, aber auch das steht Abu Nein sehr gut. Natürlich hat auch dieser Song einen düsteren Anstrich, aber in einem etwas helleren Soundgewand. „Moth in pieces“ ist ebenfalls schon seit einiger Zeit bekannt und nimmt einen mit seinem flirrenden Sound und Ericas hypnotischem Gesang gefangen, bis man am Ende ein wenig atemlos aus dem Song entlassen wird. Ähnlich düster-coldwavig geht es mit „Lock on target“ weiter, die Füße zucken und wollen drei Schritte vor, drei Schritte zurück über die Tanzfläche huschen. Mit „Eternity“ beschließt der ungewöhnlichste Song das Album, ruhig und eindringlich wechselt Erica zwischen Gesang und Sprechen ab. „This is the sound of eternity“, lauten ihre letzten Worte, und man glaubt es ihr.

Was für ein Album! Düster, mitreißend, geheimnisvoll, catchy, voller Ohrwürmer und Textzeilen, die einem noch lange im Kopf herumgehen sowie Anspielungen auf den extrem breiten musikalischen Hintergrund der verschiedenen Kollektivmitglieder. Ericas dunkle, wandlungsfähige Stimme, die vielen musikalischen Details, die verschiedenen Emotionen, die die Songs hervorrufen – all das macht II zum Düsteralbum des Herbstes, wenn nicht sogar des Jahres 2023. (Mittlerweile hat man nach dem Augsburger Label Young & Cold übrigens eine neue Heimat beim ebenso fantastischen Göteborger Label Progress Productions gefunden, bei dem z. B. auch Agent Side Grinder oder Cryo veröffentlichen). Zusammen mit Andreas Catjar-Danielsson, Dennis Lood (der Abu Nein für andere Projekte verlässt), Anders Nordensson und Jakob Lind (auch er widmet sich in Zukunft anderen Projekten) ist hier ein wirklich beeindruckendes Album entstanden, das das schon fantastische Secular palms noch übertrifft. Hier sollten wirklich alle ein Ohr riskieren, die mit Darkwave, Coldwave, Oldschool Goth, Düstersynth und allgemein spezieller Musik etwas anfangen können. (Und dabei könnt ihr euch auch gleich noch mit den anderen Projekten der Kollektivmitglieder beschäftigen, Andreas ist z. B. auch bei Covenant und mit brillanten Solo-Sachen unterwegs, Erica hat z. B. mit Tobias Bernstrup zusammen O+her und mit Anders das Industrialprojekt Opferquelle). Nicht enthalten ist übrigens die Single „Black light/Waste“ vom Juni 2021, mit dem Henric-de-la-Cour-Duett „Black light“ und dem meiner Meinung nach bisher besten Abu-Nein-Song „Waste“ – wenn ihr die noch nicht kennt, besorgt sie euch!
Die Musiker*innen – jetzt verstärkt durch Andreas Andersson – sitzen nach eigener Aussage bereits an Songs für Album Nummer drei, auch vermehrte Live-Aktivitäten sind geplant!

Anspieltipp: Kissing the glove, I am emptiness, Under Mercury, Ways to burn, Moth in pieces

:mosch: :mosch: :mosch: :mosch: :mosch:

Abu Nein: II
Progress Productions, 25.08.23
Länge: 39 Minuten
Kaufen: Beim Label Progress Productions, 139 SEK plus Porto oder bei Poponaut für € 12,95 (auch als LP erhältlich, digital bei Bandcamp)

Tracklist:
1. The tower
2. Kissing the glove
3. I am emptiness
4. Going down
5. Under Mercury
6. Ways to burn
7. Black thistle
8. Moth in pieces
9. Lock on target
10. Eternity

 

(1816)