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Frauen, Feminismus und Mythologie

 

gustafsson_ldie_hureAphrodite, die Göttin der Schönheit und Liebe, verheiratet mit Hephaistos und abwechselnd mit Ares und Adonis verbandelt, begibt sich nach einem Kampf zwischen den beiden Liebhabern auf die Suche nach Adonis Richtung Hades bzw. Hölle. Am Flughafen wird auch bald der geeignete Flug nach HEL angezeigt, den sie besteigt und damit einen neuen Lebensabschnitt beginnt.
Milla lebt mehr schlecht als recht in Helsinki, sie braucht dringend einen Job und wird Nutte. Irgendwie eine logische Konsequenz, es ist Arbeit, die Geld einbringt und mit der sie sich ihren Lebensunterhalt erleichtert und verbessert.
Kalla verdient sich als Kellnerin ihr Geld. Sie muss sich fiese Anmachen im Restaurant gefallen lassen, sie wird von einem Gast vergewaltigt, rächt sich aber, indem sie ihrem Peiniger die Augen aussticht. Nachdem sie ihren Job verliert, wird Kalla ebenfalls Hure – allerdings mit sehr viel Widerwillen, aber das soll nicht ihr letzter Job sein.
Die verschiedenen Frauen unterstützen sich, ihre unterschiedlichen Lebensphilosophien und Wege führen sie zueinander und wieder auseinander. Letztendlich treffen sich Aphrodite und Milla, um auf die Suche nach Kallas Mörder zu gehen. Gewürzt und angereichert wird dies alles noch mit so bekannten Namen wie Ares (zum Beispiel im Panzer), genauso wie Phädra, Isis, Persephone, Athene (im Gefängnis) und den Erinnyen.

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 Magisches Armband

Neal rettet eines Nachts eine junge Frau aus den Fängen eines Serienkillers. Als Dank schenkt sie ihm ein Armband mit magischen Kräften. Mit diesem kann man in die Körper anderer Menschen eindringen, fühlen, was sie spüren und denken. Doch nicht jede Reise ist mit reinem Vergnügen verbunden.

Richard Laymons Werke sind bekannt für Horror, Splatter und Sex. Doch keines gleicht dem anderen und selbst beim Lesen des Klappentextes kann man sich nie gewiss sein, was einen erwartet. So auch bei „Der Gast“.
Dramatisch, blutig und ein wenig gruselig geht es gleich zur Sache, so wie man es von Laymon kennt und liebt. Doch mit dem Auftauchen des Armbandes bekommt das Buch eine Wendung. Es ist nicht mehr der Horror, der im Vordergrund steht, viel mehr spielt der Autor mit der Psyche des Lesers, versucht ihn einzufangen mit den Reisen in die unterschiedlichen Körper und lässt ihn an den Schicksalen und Gedanken teilhaben. Neugierig verfolgt man das Geschehen, die Seiten fliegen nur so vorbei. Weiterlesen

Ärger im Anmarsch?Versteckt-9783453676169_xxl

Dead River ist ein Ort, der für junge Leute nicht viel zu bieten hat. So suchen sie sich bei nächtlichen Streifzügen oder kriminellen Aktivitäten ihren Adrenalinkick. Ein verlassenes Haus in den umliegenden Wäldern wird eines Nachts kurzerhand zur Spielstätte erklärt. Aber nicht immer sollte man seinen Freunden trauen, und so wird die Nacht blutiger als geplant.

„Versteckt“ ist ein Thriller von Jack Ketchum, der bereits 1984 aus seiner Feder entsprang und erst jetzt den Weg zum Heyne Verlag gefunden hat. Nachdem ich schon etliche Werke des Autors mein Eigen nenne und sie auch gelesen habe, musste ich natürlich auch unbedingt dieses Buch haben.
Diesmal beginnt Ketchum nicht mit einem blutigen Paukenschlag, sodass ich zunächst den Eindruck hatte, einen Teenagerroman zu lesen, in dem es um verdrängte Gefühle, unerwiderte Liebe, Zukunftsgedanken und Cliquendruck geht. Dave erzählt dem Leser seine Gedankengänge und Emotionen. Ein junger Mann, der nicht viele Freunde hat und durch Zufall in eine Clique rutscht, die nicht immer mit legalen Mitteln durch das Leben zieht. Er lässt sich mitreißen, findet es toll, und um zu gefallen, ist er trotz leichten Zweifeln an der Richtigkeit seines Handelns bei allen Aktivitäten dabei. Doch wer von uns hat diese Zeiten nicht selber erlebt. Weiterlesen

Deutschland muss sterben, damit wir lesen können!

Lesung des Schweizer Journalisten Daniel Ryser mit einem Akustik-Gig von SLIME

Nachdem man die Bandmitglieder von SLIME schon vorher ohne Berührungsängste oder Starallüren durch das Publikum hat schleichen sehen, kommt Daniel Ryser  pünktlich um 21:00 Uhr auf die Bühne. Mit grünem T-Shirt, Jeans und roten Turnschuhen sieht er weder aus wie der typische Nadelstreifen-Journalist, noch wie ein Punk, noch wie ein Gangster-Rapper – das Musik-Genre, aus dem er nach eigener Aussage eigentlich stammt. Er wirkt wie der Junge von nebenan, und das macht ihn spontan sympathisch.

Er sei sehr aufgeregt, sagt er, auch wenn man ihm das nicht so ansehe, und beginnt mit einer Anekdote von der Lesung in Wiesbaden, wo ein Besucher ständig „Wann gibt‘s endlich Mucke!!!“ rief. Das passiert in München glücklicherweise nicht, das Publikum lauscht gespannt den zahlreichen kleinen Geschichten und Legenden um Deutschlands radikalste und kompromissloseste Punkband und quittiert diese mit Schmunzeln, Lachen und auch mal Zwischenapplaus. Weiterlesen

Flammenwut der Antichristen

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Max Mandel und Sigi Singer sind ehemalige Musikjournalisten und Privatdetektive. Um auf ein Konzert von Dark Reich zu kommen, nehmen sie eine lange Reise mit dem Auto nach Norwegen auf sich. Dort angekommen lernen sie Vilde kennen, die Schwester des Sängers. Das Konzert besuchen sie zwar doch nicht, stattdessen wacht Singer am nächsten Morgen wild geschminkt in einem Regal auf – und Baalberith, Sänger von Dark Reich ist spurlos verschwunden. Dafür taucht ein Foto von ihm auf, auf dem er blutend und irgendwie tot wirkend zu sehen ist.

Berni Mayer hat einen spannenden Thriller geschrieben. Neben der Geschichte an sich lernt man einiges über die vor allem norwegische Metal-Szene, über bekannte Bands, die man selbst einmal gehört, vielleicht sogar auf der Bühne gesehen hat. Sigi Singer erzählt die Geschehnisse und wirkt dabei wie Raoul Duke, Hauptfigur aus Hunter S. Thompsons Kultroman Fear and Loathing in Las Vegas. Obwohl der Start sehr langatmig ist, wenngleich mit dem ein oder anderen guten Satz, nimmt der Roman Fahrt auf und ehe man sich versieht, ist man mitten drin in Kirchenbränden, Kreuzigungen, blutigen Konzerten und einer sehr düsteren Okkultistenwelt, von der der norwegische Metal zu leben scheint.
Mandel hingegen wirkt wie ein wandelndes Lexikon, das restlos alles über die Bands weiß und sich nicht scheut, jeder Gefahr ins Auge zu sehen – und kopflos in sie hineinzurennen.

Was ein netter Roadmovie zu sein scheint, entpuppt sich als atemloser Krimi, der mitten in der Szene stattfindet und nebenbei einen kleinen, aber sehr feinen Bildungsauftrag erfüllt. So macht das Lesen Spaß und man möchte das Buch nicht mehr aus der Hand legen, bis … Das muss jeder selbst entdecken.
Mayer zeichnet seine Charaktere mit groben Strichen, verpasst ihnen Eigenschaften, die man erwartet: ob es nun ein kettenrauchender Klugscheißer ist; ein müder Privatdetektiv, der eigentlich seine Pflicht erfüllen will, aber immer unter dem Pantoffel des Kollegen steht; oder aber die Schwester des Sängers, die einen Hang zu SM hat und sich auf jeden schmierigen Typen einlässt, der sie schlecht behandelt. Die Figuren sind fleischgewordene Klischees – und dadurch so herrlich sympathisch.
Drummer Bela B. von Die Ärzte hat über das Buch gesagt, er hoffe, dass es verfilmt würde. Das hoffe ich allerdings auch, denn ein guter Regisseur würde daraus im Handumdrehen einen kultigen Blockbuster machen.

Ein Buch, auf das die Welt und vor allem die Schwarze Szene gewartet haben, voller Spannung, Kult und Heavy Metal.

Berni Mayer ist 1974 in Niederbayern geboren und hat unter anderem als Chefredakteur bei MTV und VIVA gearbeitet. Black Mandel ist sein zweiter Kriminalroman, der an das Debüt Mandels Büro anknüpft. Einen Vorgeschmack bekommt man hier: Trailer

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Berni Mayer – Black Mandel
Heyne Hardcore, 2012
384 Seiten, broschiert
8,99 €
Amazon

„All das macht mich zu der Person, die ich bin“

 

ditto_bheavy_crossAm 22. Oktober 2012 erschien die Biografie von Mary Beth Ditto. Sie erzählt darin von ihrer Kindheit in Arkansas, die alles andere als schön war: Die Mutter meist nicht anwesend, ein Vater, der nicht ihr Vater ist, Hunger, kein richtiges Zuhause und Missbrauch durch ihren Onkel. Während der High School stylt sie sich und anderen Mädchen gern die Haare. Durch ihre Körperfülle ist sie dazu gezwungen, ihre Kleider selbst zu schneidern. Weiterlesen

Wir begegnen uns, endlich!

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Der junge Soldat Lionel White kommt blind aus dem Irak-Krieg zurück und zieht wieder bei seiner Mutter Debbie ein, die mittlerweile in der aufgegebenen Eisdiele des kleinen Kaffs Gay Paris im Bundesstaat New York lebt. Lionel – den seine Army-Kumpel „Black Jesus“ getauft haben, weil er so hellhäutig ist und an Weihnachten geboren wurde – verbringt seine Tage depressiv, verbittert und zugedröhnt mit Schmerzmitteln, während seine Mutter Debbie zusammen mit ihrem Freund, dem Hilfssheriff und Halb-Mohikaner Joe, ihren täglichen Trödelmarkt vor dem Haus betreibt. Tagein, tagaus der selbe Trott in einem kleinen amerikanischen Ort, in dem alle irgendwie ums Überleben kämpfen.
Bis eines Tages die bildhübsche Gloria auf der Bildfläche auftaucht, Gloria mit der tollen Figur, dem verrückten Wesen und dem gebrochenen Bein. Das hat die aufstrebende Ballerina (und Stripperin) ihrem Ex-Freund Ross zu verdanken, einem neurotisch-wahnsinnigen Musikkritiker der LA Times, der die Tanzerfolge seiner Freundin nicht verkraftete und ihr deshalb mit einem Baseballschläger das Bein brach. Die Flucht vor ihm hat sie auf ihrem Moped von Kalifornien quer durch die USA bis in die Catskill Mountains gebracht. Sie findet Zuflucht bei Lionel und seiner Mutter, und alles ändert sich …

Was wie eine nicht überraschende Liebesgeschichte zwischen zwei Außenseitern klingt, ist in diesem Buch jedoch viel mehr, aber auch viel weniger. Lionel und Gloria sind zwar die zentralen Persönlichkeiten der Handlung, doch wird Debbie und ihrem Freund Joe sowie dessen Mutter Bea, die im Altersheim unglücklich ist und bald an Krebs sterben wird, genauso viel Platz eingeräumt wie auch Glorias verrücktem Ex-Freund Ross. Die Liebesgeschichte findet fast nebenbei und kaum erwähnt statt, und doch erlebt man sie als Leser – das ist dem Autor Simone Felice wirklich gut gelungen, ebenso wie einige zarte, melancholische und sehr berührende Momente im Leben dieser ganzen Underdogs. Lionel und Gloria finden sich, doch noch vor den romantischen Gefühlen kommt die Gewissheit, nicht länger allein zu sein in dieser hoffnungslosen Welt und sich einen eigenen Kokon zu schaffen.

Simone Felice hat ein wirklich gutes Auge für Atmosphäre, für skurril-liebenswerte Gestalten, für das „andere“ Amerika. Doch gerade das Einfangen des Momentes hat mich beim Lesen auch ein klein wenig enttäuscht, da die Geschichte eben auch in Momenten erzählt ist, oft zwischen den Hauptcharakteren hin und her springt, immer nur kurze Szenen beleuchtet, viele lyrisch-nachdenkliche Passagen einschiebt, die sich schön lesen, aber nicht handlungsorientiert sind. Das Personal bleibt bei aller Sympathie etwas spröde und fern, ein wirkliches Bild der einzelnen Menschen wird nicht greifbar.
Bei einer Gesamtlänge von sehr großzügig gesetzten 200 Seiten kann man allerdings eine epische Aufbereitung der Handlung nicht erwarten, sondern muss sich einfach auf Simone Felices Stil einlassen. Das Buch ist auf jeden Fall lesenswert für alle, die Outsider-Geschichten aus Amerika, schräge Charaktere und ungewöhnliche Liebespaare mögen.

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Simone Felice, 35, ist ein amerikanischer Folk/Country-Musiker, der zuerst mit der Gruppe The Felice Brothers, seiner eigenen Band The Duke & The King und zuletzt auch als Solo-Künstler große Erfolge feiern konnte. Er hat neben Black Jesus noch weitere Bücher, Novellen und andere Texte veröffentlicht. Black Jesus ist sein erstes Buch auf Deutsch.

Titel der amerikanischen Originalausgabe: Black Jesus
Übersetzer: Bernd Gockel
Verlag: Heyne Hardcore, 207 Seiten, Hardcover
Preis: 14,99€ (Kindle-Ausgabe: 11,99€)

Seite des Autors

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Heyne

 

Frisch, frech, fröhlich, freizügig

GeschlechtsteilchenZwölf (oder zweimal Sex) Geschichten über Sex, den Spaß, der damit einhergeht oder einhergehen kann, humorvoll verpackt von einer neuen Autorin, die uns an ihren fantasiereichen intimen Gedanken und Erzählungen teilhaben lässt.
Schon die Eröffnungsgeschichte mit dem Titel „Kopfharem“ hat mich viel grinsen lassen und zeigt einer Frau eine Möglichkeit auf, wie man sich so manche Stunden am Tag vertreiben könnte. Aber die ist eher zum „Warm“-werden.
Bei „Aufpeppen“ wird dem weiblichen Wesen unter anderem erzählt, dass „die Qualität des Sex von der Lust der Frau bestimmt“ wird. Und dass so manches dafür getan werden kann, um selbst eingefahrene Beziehungen im Bett wieder zu erfrischen.
Dann gibt es da noch die zwischenmenschlichen Berührungen einer Hundehalterin und dem Trainer ihres Vierbeiners, obwohl anfänglich nicht klar ist, dass dies so enden könnte.
In „VIP“ wird auch mithilfe von Boshaftigkeit erzählt, wie mit einer guten Portion Fantasie eine sexuell unterforderte Frau in den Mittelpunkt gestellt wird.
Das Highlight für mich war das große Kopfkino in „Geburtstag“. Mit ihrer Sprachgewandtheit und ihrem erotischen Feingefühl hat die Autorin eine Geschichte konstruiert, die viel Spannung und Knistern beinhaltet.

Lulu Bachmanns Wortwitz und ihre sehr gut ausformulierten Situationen sind es wert, gelesen zu werden. Die Frau von gestern, heute und morgen wird daran bestimmt Gefallen finden – ein Buch, das man gerne auch ein zweites Mal aus dem Bücherregal holt.
Einzig der Untertitel hat mich etwas irritiert: Ist eine Frau mit einer so reichen erotischen Fantasie gleich versaut? Ich kann das eindeutig mit „nein“ beantworten und würde mich auf ein Nachfolgewerk der Autorin freuen.

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Lulu Bachmann: Geschlechtsteilchen – Offenbarungen einer versauten Frau
Heyne HardCore Verlag, 2012
€ 7,99
Heyne Verlag
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Russland der Zukunft?

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Die Opritschnina ist eine Elitegarde im Russland des Jahres 2027, das von einem absoluten Herrscher, dem Gossudar, regiert wird. Mithilfe seiner Elitetruppe, die besondere Befugnisse hat und in offiziellem Auftrag so gewalttätig wie möglich gegen Regimekritiker vorgehen soll, hält er sich an der Macht, hat Russland allerdings auch vom restlichen Europa isoliert. Nur China steht Russland zur Seite, die Bevölkerungen beider Länder haben sich bereits zum Teil vermischt, doch herrscht auch große Rivalität zwischen den beiden Reichen. Geschildert wird ein Tag im Leben eines der Mitglieder der Opritschnina, Andrej Danilowitsch Komjaga, der eine hohe Stellung genießt. Die Gesellschaft, in der er lebt, ist eine seltsame Mischung aus einem zaristischen Russland (erkennbar an Sprache und Kleidung der Leute sowie an geradezu übertrieben anmutender Gottes- und Heiligenverehrung) und Science-Fiction-artigen Elementen wie Sprech-Bild-Blasen, in denen Leute zu einem Gespräch geschaltet werden können, ohne physisch anwesend zu sein.
Der Leser folgt Komjaga durch einen ganzen Tag mit seinen vielfältigen Aufgaben: Das Haus eines Regimegegners wird niedergebrannt, seine Frau dutzendfach vergewaltigt; geplante Opern- und Musikaufführungen werden kontrolliert, ob sie auch dem russischen Geist entsprechen; zwischendurch wird kurz mal ans andere Ende des Reiches geflogen, um die Chinesen über den Tisch zu ziehen und Gewinn für die Opritschnina-Kasse zu machen; und noch viele weitere Einsätze, die die Herrschaft des Gossudaren festigen und für Zucht und Ordnung im Land sorgen sollen. Gleichzeitig wird aber auch die dekadente Seite des Lebens der Opritschniks, der Herrscherelite, geschildert, Drogentrips, Koks, Alkohol und Massenkopulationen.

Das Buch hat keinen großen Umfang und ist flott geschrieben, so dass es sich recht schnell lesen lässt. Doch man sollte sich durchaus Zeit dafür nehmen, um sich die von Sorokin so drastisch skizzierte Zukunftsvision besser vergegenwärtigen zu können, die dann bei näherer Betrachtung gar nicht mehr so zukünftig wirkt. Er zeichnet ein Russland unter einem absoluten Herrscher, der sich mit einer Leibgarde umgibt, die alle Regimekritiker unerbittlich verfolgt – kommt einem jetzt nicht so unbekannt vor, wenn man an das moderne Russland denkt. Viele Anspielungen werden dem nicht-russischen Leser sicher leider entgehen, doch das Gesamtbild ist sehr deutlich unter der Überzeichnung in Personal und Handlung.
Die Sprache ist eine oft verstörende Mischung aus sehr altmodischen Sätzen und brutalster Umgangssprache, die sicher nicht leicht ins Deutsche zu übertragen war und teilweise auch nicht ganz treffend ist, was allerdings durch die wirklich exzellente Übersetzung einiger sehr langer Gedichte und Lieder im Buch wieder wettgemacht wird.
Personenzeichnung und Charaktere spielen in dieser Art Buch keine Rolle, hier wird Wert auf die Botschaft und die parodistische Überzeichnung gelegt, auch der Plot ist vernachlässigbar, da es ja um die Darstellung eines Tages aus dem Leben eines Vertreters einer bestimmten Gruppe Menschen geht. Nahe kommt einem Andrej Danilowitsch nicht, aber das soll auch gar nicht sein.
Erwähnen sollte man allerdings die sehr expliziten und vollkommen gefühlskalt geschilderten Gewaltszenen, die in ihrer Direktheit und Übertreibung zum Gesamtkonzept passen, doch sicher nicht jedermanns Sache sind, ebenso wie die äußerst rüde Sprache an vielen Stellen.

Keine leichte Kost, meiner Meinung nach auch nicht Sorokins bestes Buch, ganz sicher keines, das man um des Lesegenusses willen konsumiert, aber in seiner Gesamtheit und offenen Regimekritik ein doch wichtiges Buch.

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Vladimir Sorokin, Jahrgang 1955, ist ein russischer Schriftsteller und Dramatiker, der mit seinen Werken und Äußerungen schon seit der Sowjetzeit immer wieder ins Fadenkreuz der russischen Regierung gerät. In Deutschland bekannt geworden ist er vor allem durch die sogenannte „Eis-Trilogie“, bestehend aus den Büchern Ljod, Bro und 23.000, die lesenswerte Beispiele für seinen ganz speziellen Schreibstil und seine gekonnte Vermischung verschiedenster Erzähltechniken darstellen.
Mehr zu Sorokin und seinen Büchern: Perlentaucher.de

 

Verlag: Heyne Hardcore
Übersetzer: Andreas Tretner
Ausgabe: TB, 221 Seiten
Preis: € 8,95

Verlag – Vorsicht, hier ist noch der alte Preis angegeben.
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Ein Trip durch die Hölle

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Edward Dunford ist ein junger, aufstrebender Gerichtsreporter im Norden Englands, seiner Heimat, in die er nach einigen Lehrjahren in der Londoner Fleet Street – dem Zentrum der englischen Presse – gerade zurückgekehrt ist. Er hat bereits einen großen Fall in seiner Karriere bearbeitet und dafür Ruhm und Ehre eingeheimst. An seinem ersten Arbeitstag im Dezember 1974 in der Redaktion der Yorkshire Post schlägt ihm allerdings wenig Sympathie von den alteingesessenen Platzhirschen entgegen. Außerdem hat er gerade erst seinen Vater beerdigt. Umso energischer stürzt er sich daher in die Recherchen zu seinem vermeintlich ersten bedeutenden Fall hier im Norden: Am Tag vor seinem Dienstantritt ist die zehnjährige Clare Kemplay auf dem Heimweg von der Schule verschwunden, die Ermittlungen der Polizei laufen auf Hochtouren. Doch wieso scheint Eddie der einzige zu sein, der hier Verbindungen zu zwei weiteren in den letzten fünf Jahren verschwundenen kleinen Mädchen sieht? Wieso nimmt ihn keiner seiner Vorgesetzten, niemand Ranghöheres von der Polizei ernst? Als Clare Kemplay kurz darauf missbraucht und grausam ermordet auf einer Baustelle aufgefunden wird, stürzt sich Eddie kompromisslos und auf eigene Faust in die Recherchen und sticht damit in ein Wespennest aus Korruption, personellen Verflechtungen auf höchster Ebene, Erpressung und Gewalt. Seine Ermittlungen führen ihn in die höchsten Kreise von Polizei und Stadtverwaltung, und diese Menschen wollen ihre Geheimnisse um jeden Preis wahren. Nach einem elftägigen Albtraum, in dem Eddie unzählige Male verprügelt, gedemütigt und bedroht wird und viele Menschen sterben, stößt er schließlich auf den wahren Mörder der Mädchen. Frieden bringt ihm dies jedoch nicht.

1974 ist wahrlich kein einfach zu lesendes Buch. Die Handlung ist hart, brutal, erbarmungslos, die Atmosphäre düster und hoffnungslos, die Sprache dementsprechend verknappt, assoziativ, schnell. Ein Hard-boiled-Thriller par excellence, der auf jeder Seite den Geist des großen Meisters dieses Genres, James Ellroy, atmet. Leider mangelt es dieser Verneigung vor dem großen Vorbild meiner Meinung nach massiv an Eigenständigkeit und vor allem der Finesse solcher Romane wie Die schwarze Dahlie, sondern bedient sich allzu sehr der bewährten Versatzstücke des Genres. Ein einzelkämpferischer Ermittler – in diesem Fall ein junger Gerichtsreporter –, der sich gegen alle Widerstände in einen Fall verbeißt und von allen Seiten dafür Schläge und Drohungen kassiert; eine düstere, hoffnungslose Atmosphäre aus Gewalt, Verbrechen, Leid und Brutalität; ein desillusioniertes Menschenbild.

Die dazugehörige Sprache ist dementsprechend wenig feinfühlig, und je öfter ein Fäkalausdruck oder ein Schimpfwort in einem Satz verwendet wird, desto authentischer will sich das Buch geben. Stakkatohafte, verknappte Sätze, häufige Perspektivenwechsel in diesem eigentlich von einem Ich-Erzähler dominierten Text, eine schwer überschaubare Menge an handelnden Personen und hohe Dialoglastigkeit machen es dem Leser anfangs schwer, sich auf das Buch einzulassen. Seine besten Momente hat 1974 aber tatsächlich, wenn es nicht mit Gewalt einen auf dicke Hose machen möchte, sondern fast so etwas wie ein stringent erzählter Journalistenthriller wird, wenn der Autor auch mal erzählt und dem Leser die Chance gibt, Eddies Ermittlungen folgen zu können. Dann entwickelt das Buch etwas von der in vielen Rezensionen angepriesenen Größe, und man kann sich von der höllischen Atmosphäre dieser elf Tage gefangen nehmen lassen.

Schwerer noch als die Sprache fiel mir allerdings, einen Zugang zur Hauptfigur Eddie zu finden – auch wenn dieser Zugang wahrscheinlich gar nicht vorgesehen war und ich nur danach gesucht habe. Das gesamte Personal des Buches handelt oft sehr impulsiv, irrational und grundsätzlich gewalttätig – ob verbal oder tätlich –, und Eddie macht da keine Ausnahme. Er ist das lebende Klischee eines Reporters vergangener Zeiten, sein Leben besteht aus Rauchen, Kotzen, Saufen, Verprügelt werden, niemals Wasser an sich lassen oder gar Schlafen, zwischendurch die von ihm schwangere Freundin abservieren, eine andere Frau vögeln (die ihn trotz seines verwahrlosten Zustandes natürlich sexy findet) und und und. Und der irgendwie nebenher einer wirren Story nachjagt, die der Leser nicht unbedingt in allen Einzelheiten nachvollziehen können muss.

Aber: Ich will das Buch nicht vollkommen verreißen, es ist ein Debüt, von dem aus der Autor sich definitiv noch weiterentwickeln kann. Für James-Ellroy-Jünger ist es auf jeden Fall eine lesenswerte Lektüre, und wenn man die ersten verwirrenden hundert Seiten, in denen einem Personen, Schauplätze und Ereignisse rücksichtslos um die Ohren gehauen werden, hinter sich gebracht hat, liest es sich auch recht spannend. Mir allerdings blieb das Buch – für mich bedingt durch die Sprache des Autors, die an einigen Stellen auch durchaus verbesserungswürdig zu übersetzen gewesen wäre – immer zu sehr an der Oberfläche, hat mich trotz der explizit dargestellten Gewalt nicht berührt. Meine Art von Thriller ist es definitiv nicht, doch davon soll sich niemand abhalten lassen, dem Buch eine Chance zu geben. „Die Zukunft des Kriminalromans“, wie Ian Rankin vollmundig auf dem Cover von 1974 verkündet, sehe ich darin allerdings wirklich nicht.

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David Peace (geb. 1967) stammt aus Yorkshire, England und schreibt überwiegend Kriminalromane. Er arbeitete lange Jahre als Englischlehrer in Istanbul und Tokio und lebt seit einigen Jahren mit seiner japanischen Frau und zwei Kindern wieder in England. Sein Werk umfasst mittlerweile eine Vielzahl von Romanen – darunter das bekannte „Red Riding Quartett“, dessen Auftakt 1974 bildet –, die alle mehr oder weniger genau auf realen Ereignissen, wie z.B. den Morden des Yorkshire Rippers Peter William Sutcliffe (beim „Red Riding Quartett“) basieren.
Seine Werke wurden international ausgezeichnet, außerdem erhielt er u.a. bereits zweimal den Deutschen Krimipreis.

Verlag: Heyne Hardcore
Format: TB, 384 Seiten
Originaltitel: NINETEEN SEVENTY FOUR
Übersetzung: Aus dem Englischen von Peter Torberg
Preis: € 8,95

 

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