Unverschämt schamlos

 

Was ist das für ein Film??? Ich sitze im Kinosessel und denke zwischendrin so vieles: Es ist eine Schwarz/Weiß-Frankenstein-Geschichte, eine makabre, aber klamaukige Kind-im-Körper-einer-Erwachsenen-Geschichte, eine schamlose Entdeckung der Sexualität und Lustbefriedigung, eine irre Reise durch die Welt in den wundervollsten Farben mit unglaublichen Ideen, die an Steampunk erinnern und dann aber auch wieder an ein graues, nebeliges London wie zur Zeit von Jack the Ripper!

Aber erst einmal alles auf Anfang!

Da ist ein phantastischer Wissenschaftler und Arzt, von lebenserhaltenden Maschinen abhängig und hässlicher als Frankensteins Monster, weil er als Kind das Opfer seines irren Vaters war. Er möchte bislang noch nie durchgeführte Ideen verwirklichen. Das sieht man gleich an den Tieren, die im Garten herumlaufen: eine Gans mit Schweinekopf und umgekehrt beispielsweise. Da bietet sich ihm eine Gelegenheit: Eine junge, schöne Selbstmörderin wird in der Themse gefunden und für ihn herausgefischt. Sie ist fast noch warm und das phantastischste: Sie hat ein Kind im Bauch! Er operiert das Gehirn des lebenden herausgenommenen Säuglings in den Schädel der jungen Frau. Damit erwacht Bella Baxter (Emma Stone), und sie ist wirklich wie ein Baby. Im Körper einer schönen jungen Frau lernt sie unbeholfen zu laufen, zu sprechen und zu essen. Dr. Godwin Baxter (Willem Dafoe) wird im wahrsten Sinne des Wortes ihr Vater und Gott (God). Dr. Baxter holt sich von der Universität einen strebsamen Studenten, der in den Vorlesungen an seinen Lippen hängt, zu sich nach Hause. Er soll die rapiden Entwicklungen von Bella dokumentieren. Er verliebt sich schnell in Bella, und Dr. Baxter ist dies recht. Er macht sogar einen Ehevertrag mit den beiden, und der Anwalt Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo) soll dies beglaubigen. Doch mittlerweile ist mit Bella einiges passiert. Nicht nur, dass sie allmählich aufbegehrt, sie möchte raus und nicht immer nur im Haus eingesperrt sein, nein, sie hat auch wie durch Zufall eines Morgens am Frühstückstisch das Wunder der Selbstbefriedigung entdeckt. Erst spielte sie mit einem Apfel herum, dann mit einer Gurke (ach was!), und irgendwie ahnt sie, dass es da noch mehr geben könnte. Und bevor sie Max McCandles heiraten würde, möchte sie mit diesem Anwalt in die Welt hinaus und all diese sexuellen Abenteuer und Schönheiten der Erde entdecken. Schade nur für den Anwalt, dass er ihr recht schnell langweilig wird. Erst kann er nicht so oft, wie sie möchte, und dann ist er auch nicht so unternehmungslustig, wie sie gern wäre. Ein Zustand, der ihn bald gänzlich um den Verstand bringt! Denn je mehr Verständnis Bella für diese kunterbunte Welt in ihrer Vielfalt aufbringt, desto mehr emanzipiert sie sich von ihm. Als er sie tagelang auf einer Schiffsreise auf dem Wasser gefangen hält, gibt sie ihm in Paris dann letztendlich den Laufpass. Lieber arbeitet sie in einem Bordell, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, wo sie doch sowieso noch Erfahrungen sammeln will. Wie sie dann am Ende doch wieder in London landet, wer ihr dann fast noch einen Strich durch ihre Heirat macht, und wie sie dem auf grandiose Art und Weise entkommt, das muss man einfach selbst gesehen haben, sonst könnte man das niemals glauben!

Poor Things ist für elf Oscars nominiert, unter anderen Emma Stone für die weibliche Hauptrolle. Ich wüsste nicht, wer ihn in diesem Jahr mehr verdient hätte. Wie sie kindlich und kindisch, wütend und ausprobierend im Körper einer Erwachsenen zur jungen Frau mit sexuellen Bedürfnissen wird, wie sie sich zu einer Person mit Geist und Verstand, mit intellektuellen Fähigkeiten, mit Unverständnis für soziale Ungerechtigkeit, mit Empathie und Neugierde entwickelt, und vor allem immer ohne Scham, sei es beim Sprechen, beim Essen, Tanzen oder beim Sex. Auch wenn es so aussehen mag, dass die Männer Bella dominieren, so ist es wahrhaftig nicht so. Bella bleibt sich treu, und die Männer können das nicht verstehen und verzweifeln. Es ist ein bisschen wie in Barbie, dem Film, der letztes Jahr die Herzen der Kinozuschauerinnen gewinnen konnte. Es ging immer nur um Barbie. All die Kens waren einfach nur Kens. Wisst ihr noch, das Ende bei Barbie? Barbie hat einen Termin bei der Gynäkologin. Sie lässt sich eine Vagina machen. Bella hingegen ist schon weiter. Sie hat eine Vagina (und nicht nur die), und die wird von Anfang an benutzt!

Schaut euch diesen Sinnesrausch für Aug‘ und Ohr (Filmmusik: Jerskin Fendrix) an, ich habe euch sicher nicht zu viel versprochen.

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Poor Things
Land: Vereinigtes Königreich
Jahr: 2023
Genre: Science Fiction, Romantik
Regie: Giorgos Lanthimos
Cast: Emma Stone, Willem Dafoe, Mark Ruffalo, Christopher Abbott u.v.m.
141 Minuten, Kinostart: 18.01.2024

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