Tabor Süden, Dezernat 11, Vermisstenstelle

 

Nach dem Erscheinen des jüngsten Werks von Friedrich Ani habe ich mich in den letzten Wochen mit dessen älteren Büchern beschäftigt und versucht, der Person von Tabor, dem Kommissar der Vermisstenstelle München, näher zu kommen. Seine Suche nach den Unsichtbaren zeichnet sich dadurch aus, dass es nicht nur darum geht, wer wann, wo, wie, auf welche brutale oder hinterlistige Art ermordet oder entführt wurde, sondern dass ein Krimi auch einfacher, aber nicht weniger interessanter beschrieben werden kann. Hier liegt vielleicht auch die Ähnlichkeit mit Georges Simenon, die man dem Schriftsteller nachsagt. Ferner widmet Ani Tabor Süden eine eigene intensive Geschichte. Das kennt man auch schon von anderen ausländischen Ermittlern (zum Beispiel dem schwedischen Wallander), aber diese passiert in München, an Orten und in Straßen, die man kennt oder durch die man schon gegangen ist. Das macht es persönlicher, näher und in meinem Fall auch interessanter.

Der Hauptdarsteller Tabor Süden ist im Dezernat 11 mit der Bearbeitung von Vermissungsfällen beschäftigt – aber seinen eigenen Vater kann er nicht finden. Er ist ein Spezialist für merkwürdige Geschichten und sucht in seinen Gesprächen oder Ermittlungen die Abschweifungen, Umwege sowie das Abseitige innerhalb von Aussagen und Erzählungen. Er ist ein Könner des Schweigens, der durch seine eigene Ermittlungsweise den Verschwundenen eine (Lebens-) Geschichte gibt. Dabei lässt er sich auch immer wieder von seiner Intuition leiten. Von Teamarbeit hält er nichts. Tabor kann stur und unberechenbar sein, aber seine Beobachtungsgabe ist beeindruckend.
Südens eigene Familie ist ihm abhanden gekommen: Die Mutter verstarb als er 13 Jahre alt war, drei Jahre später verschwand sein Vater aus seinem Leben, dies wird auch vereinzelt in den Romanen geschildert, ebenso wie die Begegnung mit dem Sioux-Schamanen. Von diesem erhält er ein Geschenk, das ihn sein Romanleben lang begleitet und beschützen soll und eine Art Markenzeichen wird: ein ledernes Halsband mit einem blauen Amulett, auf dem ein Adler abgebildet ist.
Tabor ist durch die sich manchmal ausbreitende Einsamkeit verwundbar. So manches Mal scheint der Alkohol sein Ausweg zu sein. Das „Prost“ wird dann durch „Möge es nützen“ ersetzt, wenn er mit dem Kollegen Heuer durch Münchens Kneipen streift. Die Frauen, die sein Interesse wecken, müssen in der Partnerschaft mit seiner eigenbrötlerischen Art zurechtkommen.
Der Mitarbeiter der Vermisstenstelle liest gerne, zum Beispiel Friedrich Hölderlin. Trotz seiner Widerspenstigkeit hat er auch eine weiche Seite, die er auch immer wieder im persönlichen Kontakt zu seinen Kollegen zeigt.
Zu seinen Eigenarten gehört auch, dass er immer ohne Pistole aus dem Haus geht. Sommer wie Winter trägt er eine schwarze, an den Seiten geschnürte Lederhose und Lederjacke sowie lange Haare. Und wer braucht schon eine Armbanduhr?
Begleitet wird Tabor Süden in seiner Arbeit und im Privatleben von Martin Heuer, mit dem er seit seinen Kindertagen befreundet ist und der ihn zur Polizei gebracht hat. Martin geht ebenso seine eigenen Wege, seine nächtlichen Stunden teilt er mitunter mit der Hure Lilo, und der Alkohol hat ihn fest im Griff, aber ein Schuss auf ihn ist prägend für seine Entwicklung in der weiterführenden Geschichte. Außerdem gibt es da noch die Kollegin Sonja Feyerabend, die im Verlauf der Serie einen größeren Part einnimmt. Sie hat auch ihre eigene Geschichte, die in jedem Roman weitergesponnen wird.

Dies alles macht die Tabor-Süden-Reihe lesenswert, diese These unterstreiche ich anhand eines kleinen Einblicks in drei Bücher daraus:

Süden und das Geheimnis der Königin (2002, Knaur-TB, 204 Seiten)sueden-koenigin_sb
Ein Blutbad ist ein guter Einstieg in einen Krimi. Aber eigentlich geht es um den Toten in einem alten, heruntergekommenen Haus, das früher eine Wirtschaft beherbergte. Der Mann ist in diesen Räumen verhungert, er trägt allerdings ein Foto bei sich, das einen Bezug zu einem alten ungeklärten Fall von Tabor Süden herstellt. Soraya Roos wurde vor zehn Jahren von ihren Eltern als vermisst gemeldet. Bis zu diesem Zeitpunkt gibt es keinen Anhaltspunkt, wo die 40-jährige abgeblieben sein könnte. Die beiden Fälle zeigen Verbindungen auf, bauen sich immer weiter auf und Süden verfolgt seine Spuren und Gedanken beharrlich bis nach Italien, bis zu diesem Massaker. Denn der zurückgebliebene Vater und der sich betäubende Wolfi warten immer noch auf diese Frau.
Im Verlauf der Geschichte muss Tabor seine eigene Vorgehensweise in der Vergangenheit hinterfragen und stellt sich sowie seinen Kollegen währenddessen eine unangenehme Frage, die in einer Kneipe philosophisch ausdiskutiert wird.

sueden-strassenbahntrinker_sbSüden und der Straßenbahntrinker (2002, Knaur-TB, 2008 in der Reihe „München erlesen“ aus der Süddeutschen Zeitung Bibliothek, 155 Seiten)
Jeremias Holzapfel meldet sich bei der Vermisstenstelle des Dezernats 11 in München im September zurück, obwohl er nie als vermisst gemeldet wurde. Er gibt an, dass er im Februar vor 14 Jahren verschwunden ist. Seine skurrile Erscheinung, seine mitunter verwirrt wirkende Erzählweise, die im anderen Augenblick wieder völlig klar rüberkommt, oder sein schwankender Gang, tragen nicht dazu bei, ihm Glauben zu schenken. Jetzt wird wieder der Mann für die besonderen Fälle gebraucht, dafür wird Tabor Süden aus seinem Urlaub herbeordert. Jeremias wählt seine Worte im ersten Gespräch mit dem Kommissar an einem Bahnhofskiosk am Hauptbahnhof mit Bedacht, zeigt aber auch die beschriebenen Eigenheiten, Tabor hält ihn für einen Schauspieler. Holzapfel weiß, wo sich Tabor aufhält, aber Tabor weiß nicht wo Holzapfel unterkommt. Einzig die langsam zum Vorschein kommenden Frauen, die Jeremias Unterschlupf und Zuneigung bereits in der Zeit nach seiner Scheidung gewähren, malen dem Ermittler ein besseres Bild des Vermissten. Und dann erhält Süden von seiner Freundin Ute Fröhlich, die bei der Münchner Straßenbahn arbeitet, einen Anruf …
Bei dieser Suche muss Tabor wieder einmal sehr genau hinhören und hinschauen, um dem Rätsel auf die Spur zu kommen.

sueden-winkel_sbSüden und der glückliche Winkel (2003, Knaur-TB 2011, 190 Seiten)
Cölestin Korbinian, ein 50-jähriger Postbeamter, ist verschwunden. Tabor Süden begibt sich auf die Suche nach ihm. Nach intensiven Gesprächen mit der bescheidenen und duldsamen Ehefrau Olga, dem Aufspüren und den Vernehmungen seiner unterschiedlichen Freundinnen kommt er der verschwundenen Person immer näher. Aber er macht sich nicht nur Gedanken um diesen Fall, auch sein Freund Martin Heuer macht ihm Kopfschmerzen. Er wurde angeschossen, und dies bedeutet einen starken Eingriff in Heuers und Südens Leben.
Die abschließende Auffindung von Cölestin ist irreal erzählt, birgt aber auch das Besondere und das nicht zu Erwartende für den Leser.

 

Ferner sind weitere Tabor Süden-Krimis im Knaur Taschenbuch Verlag erschienen:
Süden und die Schlüsselkinder
Süden und das verkehrte Kind
Süden und die Frau mit dem harten Kleid
Süden und der Luftgitarrist
Tabor Süden Roman: Die Erfindung des Abschieds
Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel
Süden und das Gelöbnis des gefallenen Engels
Süden und das Lächeln des Windes
Süden und das grüne Haar des Todes

 

Es gibt noch viel zu lesen und zu erfahren von Tabor Süden, der immer auf der Suche nach dem Nicht-Offensichtlichen, dem Blick, der Bewegung eines Angehörigen oder Verdächtigen bzw. nach seinem Vater ist.

(4450)