nick-cave_eselinIn die Hölle geplumpst

Dies ist die Geschichte von Euchrid Eucrow, geboren in Amerika Anfang der 30er-Jahre. Er wird in eine Welt hineingeboren, in der die Mutter selbst beim Gebären der Kinder noch die Flasche Selbstgebrannten fest in der Hand hält, in der der Vater die Zwillinge in Obstkisten steckt und die Fußenden beschriftet mit Nr. 1 und 2. Nr. 1, an dessen Fersen sich Euchrid bei der Geburt ganz fest klammert, um mit seinem Bruder zusammen „in die Welt zu plumpsen“, stirbt kurz danach. Und ab da weiß das Neugeborene, dass es wohl ganz alleine ist.

Euchrid macht so seine Beobachtungen, und da verwundert es nicht, dass er – was im ersten Moment abstrus klingt – die Vögel versteht, sich mit einem Hund verständigen, sich in einen Esel hineinversetzen kann. Hat er sich doch damals an seinem ersten Lebenstag schon mit seinem toten Zwillingsbruder unterhalten können. In Wirklichkeit jedoch kann Euchrid sein Leben lang nicht sprechen, es sind immer nur stumme Auseinandersetzungen, stumme Aufschreie anderen gegenüber. Der Säugling ist hungrig, das asoziale Elternpaar füttert ihn nicht, er macht sich aus dem Zeitungspapier, mit dem sein Kistchen ausgelegt ist, Klümpchen, lutscht daran, wird fast satt dabei. Das ist erschütternd zu lesen und erinnert an reale Fälle hier bei uns, die vor wenigen Jahren in aller Munde waren, Säuglinge, von Sozialarbeitern nicht entdeckt, Windel-Inneres und Teppichfusseln essend, sterbend in ihrem eigenen Dreck. Keiner kümmert sich also um den Jungen, die verlotterten Eltern haben mit sich selbst und gegeneinander zu kämpfen.
Es gibt nicht einen Tag, an dem Euchrid oder den Tieren in seiner Umgebung nicht irgendetwas Schreckliches passiert oder Gewalt angetan wird. Das Schönste, das er besitzt, sind diverse Kistchen mit Libellen-Flügeln, Kokons oder verschiedenen Körperflüssigkeiten oder -abfällen wie Fußnägel und Schorf. Ukulore County heißt die schauderhafte Gegend, in die Euchrid hineingeboren wird. Dort leben die Ukuliten, eine Art Sekte, die vom Zuckerrohranbau lebt. Euchrids Welt besteht aus Pa, der unter der Fuchtel von Ma lebt – nach Euchrids eigenen Worten die dreckfotzige, versoffene, hirnamputierte Sau, die Fusel der übelsten Sorte selbst brennt und diesem gehörig verfallen ist -, außerdem Mule, der armseligste Esel auf Gottes Erdenball, und diverse andere Tiere, die von Pa gefangen und zum Teil verfüttert werden oder auch nur schwerst verletzt vor sich hin vegetieren und dann verrotten. Diese Familie ist also ziemlich weit draußen, am Rande der Gemeinschaft angesiedelt in einem Anwesen, das man auch als infernalisches Drecksloch beschreiben kann. Obwohl sie so abseits leben, ist Euchrid immer und immer wieder Spielball aller, die meinen, besser gestellt zu sein als er – also fast jeder.
Eines Tages ist der immer hart arbeitende und geschundene Esel Mule fast tot, und Pa schaufelt sein Grab aus, aber Euchrid „… fuhr … mit einer Hand über Mules Nacken. Sein graues nasses Fell war warm. Ganz ruhig sprach ich den Namen des Tiers: „Mule“ und Mule drehte ein panisches Auge auf und richtete es in meine – und der Esel sah den Engel, Auge in verdrehtes weißes Auge, und lang und fest war der Blick. Langsam, ja, und kaum zu glauben, kam Mule wieder auf die Füße.“ (S. 72). Nur wenige Jahre später ist es Euchrid egal, dass sein Vater den Esel totschlägt. Mit immer länger anhaltender Isolation verroht er zusehends. Der Zuckerrohrgemeinde geht es nach einigen Regenjahren sehr schlecht. Und da kommt ein Prediger, dem alle verfallen. Als erstes muss die süße Nutte Cosey Mo weg, das schönste Lebewesen, das Euchrid je gesehen hat. Aber an diesem schrecklichen Ort kann natürlich eine schöne Prostituierte, die einen in der Seele berührt, nicht überleben. Weggeschleppt wird sie von denen, die sonst ein- und ausgingen bei ihr, zu Tode geschunden, Euchrid ist wie immer in weiter Ferne aber doch dabei, ein sich viel denkender, stummer Zeuge. Der Prediger redet den Ukuleten ein, so wie jemand Schuld am ganzen Schlamassel des maroden Dorfs war, so wird es auch jemanden geben, der ihnen wieder helfen wird. Und so wird Beth gefunden, ein Säugling, abgelegt am Dorfbrunnen, adoptiert von einem Mann im Dorf und von allen Frauen verwöhnt und verhätschelt. Dieses Kind beobachtet Euchrid sehr genau. In diese wundervolle, kleine Beth wird später so vieles hinein interpretiert und auch in sie hinein erklärt, das sie noch gar nicht verstehen kann: Sie würde das Dorf retten, Gott würde zu ihr kommen, sie würde seine Magd werden. Klar, dass sie so handelt, wie sie eben scheinbar muss. Und das armselige, stumme Leben dieses isolierten, wirren und misshandelten jungen Mannes nimmt seinen kläglichen Lauf.

Nick Cave hat angeblich fünf Jahre an diesem Roman, seinem Erstlingswerk, geschrieben, und zwar jeden Tag stundenlang. Er hat viel in der Bibel, vor allem im Alten Testament gelesen. Das Buch erschien in seiner Erstausgabe 1989, da war Nick Cave Anfang 30, und wie man spätestens seit seiner fiktiven Doku 20.000 Days on Earth weiß, war er damals schwer drogenabhängig. Gute Bekannte waren verwundert, dass er es schaffte, trotz seiner Heroinabhängigkeit den Roman fertigzustellen.
Dieses Buch ist so schwermütig, brutal, hässlich, so gewalttätig, es ist deprimierend, es kommt nichts Schönes, Freudvolles, womöglich Lustiges drin vor. Aber es ist bildgewaltig und zieht einen in seinen Sog. Viele Stellen könnte ich mir bei geschlossenen Augen vorstellen von Nick Cave vorgetragen zu bekommen, mit düsterer Musik im Hintergrund und seinem Sprechgesang.

Jedem Menschen reichen normalerweise seine eigenen Dämonen. Die Dämonen, die in diesem Roman zusätzlich heraufbeschworen werden – der eine oder andere Engel hin oder her –, sind zu viel für jemanden, der sich ein Buch zur Zerstreuung verspricht oder einfach nur gerne ab und an Nick Cave hört.

Wen die überaus einfallsreiche Geschichte interessiert, wer die Stärke hat, diese zu lesen, der tue es, aber – und das habe ich irgendwo gelesen – dieses Buch ist nichts für Sissies. Und das stimmt.

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Keine fünf, weil es manchmal einfach zu viel für mich war.

Und die Eselin sah den Engel
Originaltitel: And the Ass saw the Angel
Autor: Nick Cave, Übersetzer: Werner Schmitz
Taschenbuch, 336 Seiten
€ 9,99
Heyne Verlag
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