Gebrochene Stille

In unserem Interview (hier) zum Sound der letzten Dekade hatte Wolfram Bange angekündigt, dass das neue Phasenmensch-Album „sicher anders als seine Vorgänger ist, und dass das Thema Natur eine sehr wichtige Rolle spielen wird“. Beides macht neugierig auf die Umsetzung, und gleich der erste Hördurchgang lässt keine Zweifel aufkommen. A prenatural silence ist anders – das Album ist ein Soundtrack zu Jeff VanderMeers Roman „Annihilation“, der den Impuls und das Konzept für die musikalische Vorlage geliefert hat.

Die Geschichte ist mysteriös und nimmt die Leser:innen mit auf eine Expedition vier namenloser Frauen, die eine verlassene Landschaft untersuchen – eine beunruhigende Geschichte über unheimliche Entdeckungen, Geheimnisse, stille Beobachtungen und Angst vor dem Unsichtbaren  in einer seltsam hypnotischen Welt einer entfesselten Natur.

A prenatural silence ist das Ergebnis einer engen und kreativen Zusammenarbeit von Wolfram Bange und Antoine Saint-Martin. Beide Künstler haben sich im Vorfeld intensiv mit dem Roman auseinandergesetzt – das Album sind vertonte Emotionen. Angereichert mit der ausdrucksstarken und wandelbaren Stimme von Nina Kiel sind die einzelnen Passagen des Soundtracks unheimlich fesselnd – mit einer berauschenden, ahnungsvollen Atmosphäre und tief berührenden Momenten.

From the ruined village figures have emerged
„A path [Follow the shoreline]“ beginnt mit einer Silhouette aus Geräuschen und klingt wie dichter Regen, der über eine endlos weite Küste hereinbricht. Der zurückhaltende Sound wird von knirschenden Schritten und gesprochenen Vocals begleitet, die sich mit dem Wind wie ein Echo über die tiefe Dunkelheit des Meeres ausbreiten. Die Klänge bauen sich langsam und wellenartig auf und ab und sind ein warmer, melancholischer Kontrast zu dem dröhnenden, metallischen Gewitter, das „A path [Follow the shoreline]“ soundgewaltig ausklingen lässt und eine beklemmende Stimmung erzeugt. Und plötzlich ist sie da, … die Stille. Selten hat mich der Anfang einer musikalischen Geschichte so gefesselt!

Der industrielle und rohe Sound von „Entering the tower“ beginnt schleppend mit frostigen Texturen, die eine dunkle Vorahnung erzeugen. Ein schwerer Pulsschlag durchbricht den Pfad aus schattigen Atmosphären, die sich mit zunehmendem Tempo der schlagenden Beats immer weiter verdunkeln und verdichten. Mit knapp 7 1/2 Minuten ist „Entering the tower“ der längste Track auf A prenatural silence. Genügend Zeit und Raum, um eine eindringliche Atmosphäre aufzubauen, die durch das treibende und packende Gitarrenspiel von Antoine Saint-Martin verstärkt wird. Das ist unter der Oberfläche pulsierende Dramatik, die zum Ende des Songs unendlich weit und unheimlich still ausklingt.

Mit „Shreds of thought“ werden die Klänge etwas wärmer, nachdenklicher und wirken vertraut. Zwischen Traum, Wirklichkeit und gebrochenen Erinnerungen entfalten sich flüchtige Harmonien aus bewegter Elektronik und berührenden Gitarrenklängen – mit strukturellen Rissen an den Rändern, die den Raum für melancholische Passagen öffnen. Nina Kiels verhallende Worte „I wish you were here“ wirken zerbrechlich und haben eine dunkle, traurige Ausstrahlung hat, die lange nachwirkt. Nina Kiels Vocals sind mit Bedacht und auf den Punkt gebracht gewählt und vermitteln in jedem Track eine andere Stimmung – und verstärken diese. Während uns die flüchtigen Vocals in „Shreds of thought“ in einen nachdenklichen Nebel hüllen, klingt die verfremdete Stimme im darauffolgenden Track „Descending farther down“ unheimlich und betont das beängstigende Gefühl der Tiefe. Der Sound ist so düster, wie der Abstieg in die Dunkelheit und Tiefen eines Turmes nur klingen kann. Die bedrohlich wirkenden Klänge der Gitarre markieren den Abstieg in die Tiefe mit jeder Stufe und bilden einen kontrastreichen Dialog mit der verzerrt monochromen Elektronik.

For all that decays is not forgotten
Mit “Decades of journals“ und „The structure“ wandelt sich der Soundtrack in pulsierende Euphorie aus industriellen und technoiden Klängen. Beides sind absolut tanzbare Songs mit hypnotischen Beats. „Decades of journals“ besticht durch die lodernde elektronische Rhythmik, aus der sich die Schichten immer wieder neu aufbauen, während die Gitarre an der Oberfläche pulsiert. Einer meiner Lieblingstracks! Mit einem rohen Sound greift „The structure“ diese Intensität wieder auf. Grau, metallisch kalt und mit einer treibenden Dynamik breiten sich die unaufhaltsamen Klänge nahezu grenzenlos aus. Ein kraftvoller Song mit Sogwirkung, der in Zusammenarbeit mit Henning Hinck, Daniel Himmelreich und Thorsten Felix aka ICD-10 entstanden ist.

Kontrastreicher könnten diese beiden Tracks nicht verbunden sein, denn „Waiting for the soundless fall [The calm just beyond]“ beginnt mit fast tonloser Stille und macht einer melancholischen und verträumten Atmosphäre Platz. Der Song wandelt auf ruhigen Pfaden und lässt Raum und Zeit vergessen. Da ist dieser Klang, der an eine tickende Uhr erinnert und das Warten ständig präsent erscheinen lässt. Ein unheimlich ergreifender Song mit einer traurig-schönen Melodie, die gerne endlos andauern könnte. Wieder ein Lieblingssong. Der einfarbige, verhallende Sound wird in „Leaving the tower [Reaching the surface]“ fortgeführt und bildet langsam hypnotische Muster. Die aufbrechende Gitarren-Melodie wird stetig intensiver und bewegt sich um einen finsteren Kern elektronischer Klänge. Zu einem reichhaltigen Wandteppich verwoben, verbindet der Track kaltes Unbehagen und Unruhe mit stimmungsvollen und verdichteten Klangnebeln, die etwas Licht bringen.

We were ghosts roaming a haunted landscape
Stille, manchmal nur unter der Oberfläche wahrnehmbar, manchmal überwältigend nah, ist neben den Emotionen das verbindende Element der einzelnen Passagen des Soundtracks. Besonders greifbar ist sie im Track „The brightness is not done with me” – gehauchtes elektronisches Wellenrauschen mit Strahlen aus gebrochenem Licht, das sich allmählich zu einer verträumten Harmonie aufbaut. Der Song erhebt sich behutsam aus der Stille und versinkt in Ruhe. Ebenso wirkungsvoll ist „Back to the coast”, das sich offen und endlos weit präsentiert, ein driftender Song mit einem vielfältigen Sounddesign, der durch die Gitarren nach vorne gerichtet ist. Der Soundtrack findet mit „The afterglow has faded [She has melted into the sand]“ einen intensiven Abschluss und hat dabei etwas Sehnsüchtiges. Es ist ein Track aus faszinierenden Klangcollagen, verwinkelt und mit ergreifender Melancholie, der verschwommen distanziert endet – ohne eine Antwort auf die Frage nach der Zukunft – während im Hintergrund Wellen brechen.

Dies ist ein wunderbares Album, das ich immer wieder gerne höre. A prenatural Silence geht musikalisch in viele spannende Richtungen, aber alle Musikstücke fließen still und nahtlos ineinander. Ein Soundtrack zu einem Buch, der es mühelos schafft, mit einem überwältigenden Klangerlebnis die Fantasie der Zuhörenden anzuregen und Klänge in imaginäre Bilder zu verwandeln. „Es ist ein Ort, an dem man im Moment leben muss und dabei auch tief in die Erinnerung und Katharsis versetzt werden kann.“ So beschreibt Jeff VanderMeer den Ort, der ihn zu seinem Buch Annihilation inspiriert hat. A prenatural silence transportiert dieses Gefühl in vielfältigen Schattierungen, überschreitet Grenzen, verwebt Unruhe und Bedrohung mit Passagen der Stille und verliert dabei nie seinen Fluss der Emotionen.

Das Album ist anders als seine Vorgänger. Es erforscht wie kein anderes die Stille – auch dafür liebe ich diesen Soundtrack. Und wegen der vielen Kontraste, dem scheinbar Gegensätzlichen und den daraus resultierenden Emotionen, die Phasenmensch und Antoine Saint-Martin in Geräusche, Klang, Melodie und Bilder verwandeln. A prenatural silence ist eine Reise nach außen, eine Erforschung der entfesselten Natur – und noch viel mehr eine Reise nach innen, die eine Auseinandersetzung mit sich selbst und die eigene Beziehung zur Natur ermöglicht – ein überwältigender Soundtrack!

Phasenmensch & Antoine Saint-Martin: A prenatural silence
Vö. 22.04.2022
Download ab 8,90 €, CD ab 14 €
erhältlich über Bandcamp 

Alle Zeilen und Songtitel von „Annihilation“ werden mit freundlicher Genehmigung von Jeff VanderMeer verwendet und 15% aller Gewinne gehen an die Freunde des St.Marks National Wildlife Refuge – der Ort der Inspiration für „Annihilation“

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Tracks:
1 A path [Follow the shoreline]
2 Entering the tower
3 Shreds of thought
4 Descending farther down
5 Decades of journals
6 Waiting for the soundless fall [The calm just beyond]
7 The structure [feat. ICD-10]
8 Leaving the tower [Reaching the surface]
9 The brightness is not done with me
10 Back to the coast
11 The afterglow has faded [She has melted into the sand]

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