We are old, we are young, we are in this together

New Model Army – über dreißig Jahre gibt es die Band um den charismatischen Justin Sullivan schon, und für mich ist sie untrennbar mit meiner Jugend verbunden. „Vagabonds“, „White Coats“ oder „The Hunt“ liefen in meiner Stammdisco damals rauf und runter, und gerade die Anfangswerke von New Model Army werden immer ein ganz besonderes Gefühl in mir auslösen. Umso unverständlicher – und peinlicher – ist es, dass sich in all den Jahren nie ein Konzert der Band für mich ergeben hat. Gerade von dieser genialen und unglaublich mitreißenden Live-Band, die quasi jeden zum Tanzen bringen kann. Was für eine Schande! Heute sollte diese Bildungslücke endlich geschlossen werden. New Model Army sind mit ihrem neuen Album Between Dog and Wolf (nach 2009 endlich wieder ein Lebenszeichen) auf Tour, und ich bin dabei. Ruhiger ist die neue Platte, introvertierter, und ich bin gespannt, wie die Lieder live klingen werden. Wie viele der Klassiker sie wohl spielen werden und welche? 

bomb-whatevaSpannung und Vorfreude steigern sich den ganzen Nachmittag, bis man endlich im Backstage Werk steht, das sich langsam, aber stetig füllt. Bei der Vorband Bomb Whateva¿ hat sich schon eine ansehnliche Meute versammelt, die zuerst noch etwas verhalten auf die schweinerockigen Songs der englisch-schwäbischen Formation reagiert. Doch nach zwei, drei Liedern ändert sich das, die Band hat sich eingegroovt, das Publikum auch, und einträchtig wird zu den Stoner-Hymnen, die mich zeitweise sehr positiv an alte Kyuss-Sachen erinnern, mit dem Kopf genickt oder sogar die Haare geschüttelt. Songs wie „Come closer“, „Supernova“, „Keep it clean“ oder der Abschlusstitel „Mexico“ steigern die Stimmung kontinuierlich, und die Band wird schließlich mit frenetischem Jubel verabschiedet – schaffen auch nicht alle Vorbands. Bomb Whateva¿ sind sichtlich erfreut, bedanken sich mehrmals bei New Model Army und dem Publikum und hinterlassen damit einen rundum sympathischen Eindruck. Wer daheim das Konzert noch einmal musikalisch nacharbeiten möchte, sei auf die Bandcamp-Seite http://bombwhateva1.bandcamp.com/ verwiesen.

Nach einer längeren, aber nicht allzu langen Umbaupause steigen Luftfeuchtigkeit und freudige Erregung sprunghaft an im Werk, als um Viertel nach neun die Lichter ausgehen und das Intro erklingt. Was für eine Melodie ist das denn gleich noch? Ja, tatsächlich, „Vagabonds“ wird hier angespielt, allerdings nicht wie in der Originalversion mit dem Geigenintro von Ed Alleyne-Johnson, sondern auf einer Art Schifferklavier. Sehr stimmungsvoll, sehr nostalgisch, ein perfekter Einstieg. Als dann schließlich Justin Sullivan und seine Mannen auf die Bühne kommen, erwartet jeder die legendären Zeilen „We follow the taillights out of the city …“, doch weit gefehlt – los geht’s mit „I need more Time“ vom neuen Album.

An dieser Stelle möchte ich an Mrs. Hyde übergeben, die das Konzert aus den ersten Reihen verfolgt und somit die einzigartige Stimmung, die New Model Army in den nächsten zwei Stunden erzeugen werden, bestens dokumentieren kann.

newmodelarmy-1Mrs. Hyde: Das Publikum heute Abend ist sehr gemischt, der Altersdurchschnitt liegt zwischen 40 und 60. Ich sehe sogar einen Typen, der mit seinem spießigen Hemd und Krawatte hinter einem Bankschalter stehen könnte. Schwarzkittel sind nur wenige anwesend, aber New Model Army waren auch nie eine richtige Gothic-Band, auch wenn sie in den 80er- und 90er-Jahren eine große Anhängerschaft in der schwarzen Szene hatten.
Lange hat man auf das neue Album warten müssen, da New Model Army einige Schicksalsschläge erleiden mussten. Erst starb ihr Freund und Manager Tommy T, dann brannte das Studio aus, die wenigen verbliebenen Instrumente wurden aus dem Tourbus gestohlen, und der langjährige Bassist Nelson verließ die Band aus familiären Gründen. Mit Ceri Monger wurde allerdings optisch und musikalisch ein würdiger Ersatz gefunden, wie sich später zeigen wird. Das Zusammenspiel wirkt, als wäre er schon immer dabei gewesen. Teilweise unterstützt er zusätzlich Michael Dean an den Drums, sodass das Konzert percussionlastiger ist als die letzte Tour, aber das hat sich auf dem neuen Album schon angekündigt. Dean White am Keyboard und Marshall Gill machen das Quintett um Sänger Justin Sullivan komplett.
Als die Band nach dem von torshammare schon erwähnten Schifferklavier-Intro zu „Vagabonds“ die Bühne betritt, steigt die Saaltemperatur gefühlt noch einmal um 10 °C an, dennoch bekomme ich Gänsehaut; auch ich erwarte die bekannten Worte „We follow the taillights …“ Doch es folgt „I need more Time“ vom neuen Album Between Dog and Wolf. Auf dem Album eher ruhig, bricht heute allerdings eine Gitarren-Lärmorgie los, als Justin den Refrain regelrecht aus sich herausschreit. Man spürt sofort, dass die Band heiß ist auf den heutigen Abend.
Gleich im Anschluss ertönt heftig rumpelnd das Gitarrenintro von „Today is a good Day“ vom gleichnamigen Vorgängeralbum, zu dem die mitgereisten englischen Fans (auch für diese Tour gab es wieder Season Tickets, also Dauerkarten für alle Konzerte) für erste Bewegungen im Publikum sorgen. Nach zwei weiteren Songs aus dem neuen Album gibt es auch für mich kein Halten mehr, denn es folgt „The Hunt“ von der legendären Scheibe The Ghost of Cain, ein Song, auf den ich heute Abend ohnehin gehofft hatte. Um die Engländer herum entsteht ein schweißnasser Moshpit, wie er selten im Backstage erlebt wird. Die Luft ist zum Schneiden, so stickig ist es im Werk, was aber niemanden vom ekstatischen Herumspringen abhält.

Besonders freue ich mich über „Christian Milita“ vom Debütalbum Vengeance, dessen Songs live fast immer gänzlich ignoriert werden, und eigentlich steht es gar nicht auf der offiziellen Setlist. Aber dank des riesigen Repertoires der Band sind solche Spontanaktionen kein Problem. „Here comes the War“ vom Album The Love of hopeless Causes könnte man fast wörtlich verstehen, denn jetzt tobt der komplette Saal. Die dazugehörige Tour 1993 war übrigens die erste, die ich seinerzeit besuchen konnte. Nach drei weiteren Songs vom neuen Album, unter anderem dem Titeltrack „Between Dog and Wolf“, spielen New Model Army das lange nicht gehörte „No Rest“ vom zweiten Album No Rest for the Wicked, das der wütende Moshpit quasi wie eine Aufforderung versteht. Pogo vom Feinsten!

Das Konzert endet, wie schon öfter, mit dem dazu passenden „Wonderful Way to go“, dem Opener vom Strange Brotherhood-Album. Aber natürlich ist klar, dass das noch nicht alles ist, und so steigert die Band bei der Zugabe die Stimmung noch einmal kontinuierlich mit dem neuen „Lean back and fall“ (britisch ironisch mit einem „A song we play very rarely but it happens to come around“ angekündigt) über „Ballad of Bodmin Pill“ hin zu „Get me out“ vom Album Impurity, das noch einmal für heftigen Austausch von Körperflüssigkeiten sorgt. Mittlerweile krieche ich auf dem Zahnfleisch. Was für ein Abschluss! Das Licht geht an, die Rausschmeiß-Musik dudelt vom Band, der Roadie sammelt die Gitarren ein. Doch was macht das Münchner Publikum, das so oft (und leider nur zu Recht) als langweilig, träge und schwierig verschrien ist? Es weigert sich schlicht zu gehen! Niemand verlässt seinen Platz, es wird weiter geschrien, gepfiffen und applaudiert, sodass New Model Army schließlich nach sechs Minuten erneut für eine nicht geplante weitere Zugabe die Bühne betreten.

newmodelarmy2Justin bedankt sich für die grandiose Stimmung und meint schließlich: „Well, Munich! This has been a great evening,we really didn’t expect that. We should have played here twice. Well, it´s Sunday night and I´m sorry for you people going to work tomorrow early for we have a day off!” Es folgen das energische “225” und die Ballade “Purity”, die mir das Wasser in die Augen treibt. Und dann wird endlich der Übersong, auf den wohl alle gewartet haben, gespielt: „Green and grey“ vom Jahrhundertalbum Thunder and Consolation. Jetzt laufen mir ernsthaft die Tränen herab, während hinter mir einer der mitgereisten Engländer auf die Schultern seiner Kumpels steigt. Ein ca. zwei Meter großer muskulöser Bär von Mann thront allein über der Menge und wirkt irgendwie wie ein Spiegelbild für Justin Sullivan, auf Augenhöhe im Publikum stehend, gemeinsam singend. Das sind Gänsehautmomente für die Ewigkeit. Mit „I love the World“ verabschiedet sich die Band endgültig, die letzten Kraftreserven werden noch einmal mobilisiert, sogar der eingangs erwähnte Bänker springt plötzlich neben mir herum, die Krawatte hat er längst in die Ecke geschmissen. Und mit der Titelzeile sind sich zumindest heute Abend wohl alle einig.

Es gibt schlechte Konzerte, es gibt gute, und es gibt solche wie heute Abend, die reißen einen wie ein Ozeanbrecher mit, spülen dich durch und spucken dich am Ende völlig entkräftet wieder aus. Dieses Konzert war ein ganz besonderes, von dem man aus dem manchmal grauen Alltag heraus noch lange zehren kann.

torshammare: Ich stehe zwar nur neben dem Moshpit und nicht mittendrin, erlebe das Konzert aber ähnlich intensiv. Selbst die mir unbekannten Lieder reißen mich mit, lassen mich keine Sekunde stillstehen, Justins freundliche und charismatische Persönlichkeit fesselt mich, das perfekte Zusammenspiel seiner Mitmusiker, die neuen Percussion-Elemente, das ausgesucht farbenfrohe und atmosphärische Bühnenlicht, all die glücklichen Gesichter um mich herum – ja, das ist ein perfekter Konzertabend. Bei „Here comes the war“ möchte ich das erste Mal schier platzen vor Freude (der Refrain wird mich noch viele Tage verfolgen), und dieses Gefühl wird immer nur noch stärker im Verlauf des Abends. Bei „Purity“ stehen mir ebenfalls die Tränen in den Augen, „Green and grey“ ist einfach nur magisch, und bei „I love the World“ hat man wirklich alle und alles um sich herum sehr lieb.
Natürlich vermisse ich einige ewige Lieblingslieder wie „Stupid Questions“ oder „White Coats“ oder eben „Vagabonds“, aber das zeichnet eine große Band aus – es ist eigentlich nicht wichtig, welche Lieder sie spielt. Es kommt darauf an, wie sie ihre Songs spielt. Und das macht New Model Army so schnell keiner nach.

Setlist:
I need more Time
Today is a good Day
March in September
Did you make it safe?
The Hunt
Pull the Sun
Christian Militia
Archway Towers
Here comes the War
Knievel
Between Dog and Wolf
Stormclouds
No Rest
High
Seven Times
Frightened
Wonderful Way to go

Lean back and fall
Ballad of Bodmin Pill
Get me out

225
Purity
Green and grey
I love the World

Bilder: torshammare

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3 Kommentare
  1. Hias
    Hias sagte:

    Guter Bericht über das Konzert, der mir beim Durchlesen mehrmals Gänsehaut erzeugt hat und Tränen der Erinnerung kommen ließen. Das Backstage ist wirklich ein genialer Ort, wie es auch Justin gemeint hat!
    PS: Der 2 Meter Engländer war eine Junge aus Hamburg ;)
    CU in Amsterdam on Christmas or anytime!!!
    http://www.youtube.com/watch?v=H0ookhLspQY

  2. torshammare
    torshammare sagte:

    Hi, freut mich, daß der Bericht auch Dein Konzerterlebnis wiedergibt! Es war wirklich ein toller Abend …
    Und danke für die Auflösung des Rätsels um den Die-Hard-Fan :)
    Viele Grüße
    torshammare

  3. RTC mit NMA Fotos
    RTC mit NMA Fotos sagte:

    Hallo Sabine,

    jetzt weiß ich wer mit mir im Fotograben rumgesprungen ist.
    Gute Bilder und auch ein schöner Artikel zu einem richtig schönen NMA Konzert.
    Grüße und bis zum nächsten mal.

    RTC

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