Die wilde Dreizehn
Unglaublich, wie die Zeit vergeht – schon zum dreizehnten Mal lädt MRW Concerts zum jährlichen Tanzt!-Festival. Fans von Mittelalter-Folk, Mittelalter-Rock und Anverwandtem bekommen hier einen Tag lang internationale und einheimische Genrevertreter vom Feinsten geboten, und die Stimmung auf der Bühne und im Publikum ist jedes Mal wirklich sensationell gut. Kein Wunder, waren in den letzten Jahren doch nationale Größen wie Schandmaul (Tanzt! 2018) oder Tanzwut (Tanzt! 2017), aber auch internationale Schmankerl wie Dalriada oder Nine Treasures vertreten. Diese Mischung ist den Veranstaltern auch dieses Jahr wieder gelungen, und man darf sich unter anderem auf eindringliche Momente mit Delva, Spaß mit Vogelfrey, wilde Piratenhatz mit den Schweden von Ye Banished Privateers oder den finalen Abriss von Folkstone aus Italien freuen.
Als ich um kurz nach drei Uhr nachmittags das Backstage Werk betrete, ist es allerdings noch sehr viel leerer als in den letzten Jahren um diese Uhrzeit, und das trotz des hochkarätigen Programms. Oder geht es vielen so wie mir, dass doch erst noch einiges erledigt werden muss, bevor das fröhliche Treiben begonnen werden kann? So verpasse ich leider die Opener Vera Lux aus Nürnberg, die treibenden Folk-Metal unters Volk bringen und nach Aussagen von Bekannten schon gut eingeheizt haben müssen. Am 18. April spielen sie mit Ingrimm im Spectaculum Mundi – vielleicht klappt es ja da.
Ich steige dann richtig ins Festival ein mit Delva, dem Quartett um die Krins-Schwestern Johanna und Judith und neuerdings mit Letzte-Instanz-Andy am Schlagzeug. Delva spielen eindringlichen, oft sehr ruhigen Folk, der zur inneren Einkehr und zum Nachdenken anregt. Ein bisschen melancholisch, oft auch verträumt, und immer tiefgründig. Johanna am Gesang, Keyboard, an der Flöte und der Trommel sowie Judith an der Geige bilden das Gerüst von Delva, das wunderbar von Andy am Schlagzeug und Michael an der Gitarre zusammengehalten wird. Nach dem schon bekannten „Schattentanz“ gibt es etwas Neues, vom nächstes Jahr erscheinenden Album, den Song „Verblassen“, der unter anderem durch Johannas markante Flöte definitiv Lust auf mehr macht. Beim nächsten (auch neuen) Lied müssen wir ganz stark sein, denn es ist eine Ballade, zu der man aber auch tanzen darf. Was könnte zu der Beschreibung besser passen als der Titel „Frühling“, Johanna sitzt hier hinterm Keyboard. Nicht nur mir gefallen die Songs, das mittlerweile auch zahlreicher vertretene Publikum feuert die Band mit Sprechchören an. Schön! Auch „Versprich mir“ ist ruhig und klavierbetont, wohingegen bei „Gestrandet“ die große Trommel zum Einsatz kommen darf. „Nebel“ vom kommenden Album lebt vor allem von Judiths Geige, und dann dürfen wir uns auf die absolute Live-Premiere des letzten Songs freuen, „Stimmen aus der Tiefe“. Die gelingt natürlich, und Delva werden mit großem Jubel verabschiedet. Danke für die schöne Stimmung auf der Bühne und im Publikum!
Falls jemand neben belebenden Hopfengetränken auch ein bisschen lebhaftere Musik möchte, der darf die nachfolgenden Vogelfrey auf keinen Fall verpassen, die dem Mittelalter-Metal mit sehr viel Humor und den schärfsten Sonnenbrillen des Tages auf den Leib rücken. Humor ist ja immer hochgradig subjektiv, für mich funktionieren hier die Selbstironie und der Witz der Hamburger Jungs und der Deern, die seit Mitte der 2000er Jahre aktiv sind. Heute mit Gast-Deern Sandra von Storm Seeker am E-Cello, legen Vogelfrey nach dem Intro ganz wie der besungene „Mittelalter Rockstar“ los, es wird gepost und die Haare geschüttelt, dass es eine Freude ist. Nach der „Ära des Stahls“ wissen wir dann auch, wer an allem schuld ist: der Met! Der goldene Honigtrunk kann einen schon mal ein wenig wahnsinnig werden lassen, völlig klar. Dem Aufruf „Tanz für mich“ folgt das amtlich ausrastende Publikum brav, die meisten mit einem fetten Grinsen im Gesicht. So muss das! Die Band um Sänger Jannik Schmidt hat selbst auch ordentlich Spaß in den Backen, weshalb die Frage „Magst du Mittelalter?“ heute eindeutig mit einem schallenden Ja beantwortet wird. Chris Harms am Kreuz (siehe das dazugehörige Video) konnte leider seine Rolle nicht live spielen, aber der Song macht auch so richtig Dampf und Spaß. Ernst wird es kurz darauf mit „Schüttel dein Haupt“, sowohl für die Band – „Wir spielen den Song erst zum zweiten Mal!“ – als auch fürs Publikum, denn wir sollen natürlich mitmachen und dem Nacken zeigen, wer der Boss ist. Das lassen sich viele nicht zweimal sagen, sodass die Luft im mittlerweile richtig schön vollen Werk sehr, sehr haarig wird. Das „Lindwurm Massaker“ klingt auch so, hier wird uns eine ordentliche Metalbreitseite um die Ohren gehauen, und das Publikum lässt sich nach dem Schlachtruf des Tages „Hörner hoch!“ nicht lumpen und veranstaltet eine beeindruckende Polonaise durch das Werk. Den „Heldentod“ muss heute zum Glück niemand sterben, wir machen einfach das, was zum Singen und Klatschen noch fehlt: Springen! Wer dann noch nicht genug hat, kann die Band im Dezember mit Subway to Sally auf Tour erleben.
Die nachfolgenden Cultus Ferox aus Berlin sind ebenfalls alte Hasen der Mittelalter-Rock-Szene, und als solche wissen sie, wie man die Leute einpeitscht: nämlich mit Pompons und einer geschwenkten Fahne vom Münchner Kindl. Das von vielen Mittelalterpartys bekannte „Aussatz“ gibt den Ton für das Set vor – rockig und ein wenig rotzig. Flöten und Dudelsäcke dürfen natürlich nicht fehlen, aber grundsätzlich wird Gas gegeben. Nachdem die Bajuwaren ja angeblich ein sangeslustiges Völkchen sein sollen, werden wir bald schon zum Mitsingen aufgefordert – das klappt ganz gut, ein bisschen Stimmungsluft nach oben ist aber noch. Die Band – mit neuer Bassistin Lena, die ihren Job super macht – wird immer wieder von zwei holden Tänzerinnen unterstützt, die Sänger St. Brandanarius auch gern mal mit Schlachtermessern näher kommen, wenn sie nicht gerade in verschiedenen Kostümen über die Bühne wirbeln und Musiker und Publikum unter anderem mit weiten, gelben Stoffschwingen oder roten Schals bezirzen. So vergeht der Auftritt recht schnell, „Grenzenlos“ oder „Goldene Zeiten“ heizen ordentlich ein, das schöne Instrumental „Sahra“ beschwört bei allem Rock dann auch etwas Mittelaltermarktatmosphäre herauf. Ein bisschen leerer wird es mit der Zeit allerdings im Werk, nach fast vier Bands ist für viele sicher die Zeit für die erste große Pause des Tages gekommen – man muss ja bei Kräften bleiben, der Tag ist noch lang. Die Band bedankt sich am Ende trotzdem für die gute Stimmung, „das war sehr angenehm mit euch, vielen Dank!“
Nachdem die wilde Piratentruppe aus Umeå in Nordschweden letztes Jahr so dermaßen abgeräumt hat, sind Ye Banished Privateers dieses Mal auch wieder dabei, und darauf freuen sich viele. Allein schon der Soundcheck der neun Piraten und Piratinnen mit den genialen Kostümen ist hochspannend, denn bis alle Instrumente – darunter diverse Geigen – und Mikrophone sitzen, dauert es ein bisschen. Schließlich wird später bei quasi jedem Lied ein anderes Bandmitglied im Mittelpunkt stehen oder alle singen gemeinsam, das will vorbereitet sein. Seit 2008 treibt der farbenfrohe Haufen schon sein Unwesen, kürzlich gab es mit „No prey, no pay“ einen Vorgeschmack auf das neue Album Hostis humani generis, das Anfang Februar erscheinen wird. Ob man heute schon Kostproben zu hören bekommen wird? Los geht’s jedenfalls erst mal mit „Cooper’s rum“, und schon kann sich Blackpowder Pete (Markenzeichen: langer schwarzer Vollbart) wie so oft nicht mehr beherrschen, drängt Sängerin Magda vom Mikrophon weg und sich selbst in den Mittelpunkt. Das geht natürlich nicht, weshalb ihm Magda sofort eine Flasche über den Schädel zieht und ihn so auf die Bretter schickt. Die Ordnung ist wieder hergestellt, es kann weitergehen. Das Publikum kennt kein Halten mehr und feiert die Schweden jetzt schon gnadenlos ab. „Welcome to Tortuga“ und „Waves roll high“ führen uns einige Jahre zurück zum Album Songs and curses, astreine Piratenfolkschunkler mit vielstimmigem Gesang. Besonders mitreißend ist „Sjömansvisa från Nattavara“, im Rhythmus eines „schottis“, eines traditionellen schwedischen Tanzes. „Gangplank“ ist wieder bestes Piratenschauspiel mit abwechselndem Gesang und herumwuselnden Musikern – man weiß gar nicht, wo man zuerst hinschauen soll. „Annabel“ singt das halbe Publikum dann zusammen mit Magda, und sicher habe nicht nur ich eine enge Kehle – so ein wunderschönes, trauriges Lied! Damit wir aber nicht zu melancholisch werden, erzählt uns Blackpowder Pete temperamentvoll, dass das „Ship is sinking“, und solidarisch gehen wir alle mit ihm in die Knie. Nach einem wieder sehr traditionell schwedischen Geigeninstrumental folgt die mächtige Ansage „We are Ye Banished Privateers“ – falls es bisher jemand verpennt haben sollte, wer da auf der Bühne herumtobt. „High Street“ und „Libertalia“ beenden leider schon wieder dieses großartige Schauspiel (denn ein normaler Auftritt ist das nicht), bei dem alle neun Musiker*innen gleichwertig ihre Fähigkeiten zeigen konnten. Eigentlich geht das kaum zu beschreiben, schaut euch die Umeå-Piraten an und singt euch mit ihnen die Seele aus dem Leib. Nächste Gelegenheiten: Dortmund Weihnachtsmarkt und Wacken Winter Nights.
Eine Pause ist uns nach diesem schweißtreibenden und höchst vergnüglichen Auftritt aber nicht gegönnt, denn rasant geht es mit den Münchner Lokalmatadoren Vroudenspil weiter. Davor hält Veranstalter Michael Sackermann noch eine kleine Rede, bedankt sich für die jahrelange Treue und verkündet, dass es mit dem Tanzt! erst einmal weitergehen wird – das war nämlich bis dahin gar nicht so klar. Große Erleichterung im Publikum und beste Voraussetzungen für den Auftritt von Vroudenspil, DIE große Konstante des Tanzt!, denn sie waren seit der ersten Ausgabe 2007 bis heute jedes Jahr dabei. Dementsprechend wissen die Freibeuter auch, wie man das Werk zum Hüpfen bringt. Das funktioniert auch von der ersten Minute an hervorragend, und schnell sind die meisten Anwesenden „Tanzbär“en. Don Santo muss da eigentlich auch nicht mehr fragen, ob wir Lust auf Rock’n’Roll haben (natürlich die Freibeutervariante), denn die rappelvolle Halle frisst den Musiker*innen sowieso aus der Hand. „Wir sind ja gerade mit Schandmaul unterwegs – wer ist hier wegen Schandmaul?“ Zum Glück hat sich niemand verirrt, ist auch nicht ein Jahr in die Vergangenheit gereist, sondern alle wollen Vroudenspil sehen und den „Plankentango“ tanzen. Danach ist es nicht nur uns ordentlich warm, sondern auch Don Santo, der sich bisher noch eisern in seiner „mobilen Sauna“ gehalten hat. Den „Ausziehen“-Rufen folgt er allerdings trotz drohenden Sauerstoffzeltes noch nicht sofort, erst will das „Püppchen“ besungen werden. Bei „Schein und Sein“ darf wieder Freibeuter Petz‘ Saxophon erklingen, und Don Santo löst danach ein Rätsel: „Man muss sich gar keine tollen Ansagen ausdenken, sondern einfach saufen! Danke, Tanzt!“ Sprach’s und setzte unter jubelndem Beifall die Pulle an den Mund. Beim „Wanderer in Schwarz“ darf der Mantel dann doch endlich weichen, und das Propellern von zahlreichen langen Haaren im Publikum sorgt für ein paar dringend nötige Luftzüge in Münchens größter Sauna. Um den sowieso schon lebhaften Pogo im Pit noch zu verschärfen, springt Don Santo in die Menge, die sich erst zurückzieht und auf sein Zeichen hin dann die „Rebellion“ ausruft – sprich, noch wilder herumspringt als zuvor schon. Eine reife Leistung bei den Temperaturen und dem langen Tag, der sich doch langsam bemerkbar macht! Noch mehr Sport gibt es bei „Lebensglut“, bei dem wir alle brav in die Knie gehen und auf Kommando so hoch wie möglich in die Luft springen. Klappt super, doch nach den letzten Liedern sind wir dann alle doch erst mal ziemlich erledigt. Egal – feine Party!
Alle ziemlich erledigt? Nein, eine unbeugsame Gruppe Italiener – der berühmte Fan-Bus für Folkstone – belegt die vorderen Reihen und singt sich während der Umbaupause mit „Luna“ schon mal auf den Abschlussauftritt der allerletzten Tour ihrer Lieblinge ein. Und da soll man nicht jetzt schon nostalgisch werden? Die achtköpfige Truppe aus Bergamo gehört ebenso untrennbar zum Tanzt! wie Vroudenspil, auch wenn sie nicht so oft auf dem Billing stand. Doch ohne das Tanzt! würde wahrscheinlich niemand außerhalb Italiens diese absolut einzigartige Medieval-Folk-Band kennen, die mit teilweise vier Sackpfeifen gleichzeitig für unglaublich Tempo und Druck auf der Bühne sorgt. Auch die mit viel Gefühl von Lorenzo Marchesi vorgetragenen italienischen Lyrics sind ein Alleinstellungsmerkmal. Nach fünfzehn Jahren will man die Band jetzt allerdings zu Grabe tragen – ein schwerer Schock, aber immerhin Anlass für ein rauschendes Abschlusskonzert auf dem Tanzt! Um erst gar keine melancholischen Gefühle aufkommen zu lassen, legt man mit „Diario di un ultimo“ gleich die Tempomesslatte hoch und gönnt sich und uns in den nächsten knapp anderthalb Stunden so gut wie keine Pause. Die italienischen Fans vor der Bühne bringen das Werk zum Kochen, textsicher sind sie sowieso alle, und heute ist München wirklich mal die nördlichste Stadt Italiens. Lorenzo und Roberta wechseln sich mit den Vocals ab bei einem wahren Best-of-Feuerwerk aus „I miei giorni“, „Nebbie“, „Frammenti“ und und und. Zwanzig Songs stehen insgesamt auf der Setlist – leider nicht „Luna“, aber da hätten wahrscheinlich doch alle mit den Tränen kämpfen müssen. Emotional wird es trotzdem, als Veranstalter Michael nach der Bandhymne „Folkstone“ kurz auf die Bühne kommt und sich bei der Band bedankt, die für ihn „the best medieval rock band in the whole world“ sind. Ja, da könnte er definitiv recht haben … Gen Ende zu, bei „Omnia fert aetas“ und „Con passo pesante“ merkt man allerdings dann schon eine gewisse Rührung auf der Bühne, auch wenn das Publikum weiter Vollgas gibt und gnadenlos Party macht. Der Abschied fällt dann kurz und schmerzlos aus, alle verbeugen sich glücklich und erschöpft und … sind dann mal weg. Das war’s also, kein Folkstone mehr. Zumindest in Deutschland – in Italien hat man dann doch noch zwei allerletzte Zusatzkonzerte im Dezember angesetzt, die dann sicher emotional werden.
Mittlerweile ist es weit nach Mitternacht, ein langer und ereignisreicher Tag liegt hinter uns, voller Melodien und Eindrücke, Tanz und Gesang, Spielfreude auf der Bühne und Enthusiasmus im Publikum, glückliche Gesichter, wohin man blickt, und genau das macht das Tanzt! aus. Vielen Dank an alle Bands, das Publikum und die Veranstalter MRW Concerts, und es ist schön, dass wir uns nächstes Jahr alle wiedersehen. Vielen Dank auch an die Kollegen von Metal1.info, die sich wieder um die Autogrammstunden gekümmert haben – tolle Sache!
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