48 Musiker*innen, fünf Länder, ebenso viele Sprachen und unzählige Sackpfeifen und Tröten
So schnell geht ein Jahr rum. Nach dem rauschenden Erfolg des letztjährigen Tanzt!, bei dem unter anderem Tanzwut und Saltatio Mortis das Backstage zum verschärften Hüpfen brachten, haben viele schon der 12. Auflage des mittlerweile extrem etablierten und beliebten Mittelalter- und Folk-/Rock-/Metal-Festivals entgegengefiebert. Mit Schandmaul konnte man DIE Lokalmatadoren schlechthin verpflichten, das weitere Programm verspricht ebenfalls ein Bandschmankerl nach dem anderen. Dieses Jahr liegt der musikalische Fokus wieder mehr auf den folkig-mittelalterlichen Tönen, letztes Jahr gab es mit Nine Treasures und Dalriada mehr Metal auf die Ohren. Mir gefällt diese Abwechslung, dem Publikum hoffentlich auch, und so steht einem zwar sehr langen, aber mitreißenden Samstag im Backstage Werk nichts mehr im Weg.
Um zwei Uhr nachmittags ist auch schon eine ganz ansehnliche Publikumsmenge eingetrudelt, die sich an den diversen Ständen mit Mittelalterbedarf und Merchandise umsieht oder sich mit dem ersten Bierchen auf die nachfolgenden Konzerte einstimmt. Brachmond aus Olching spielen dann ab halb drei vor einer ordentlichen Kulisse, und das ist für die Tageszeit sehr erfreulich. Brachmond haben vor zwei Jahren schon einmal das Tanzt! eröffnet, dieses Jahr haben sie ihr erstes Album Ascheregen im Gepäck und freuen sich, diesen Meilenstein der Bandgeschichte live präsentieren zu dürfen. Gespielt wird eine genretypische Mischung aus Rock und Mittelalter mit deutschen Texten, die von der siebenköpfigen Band mit großer Spielfreude vorgetragen wird. Vor allem Geigerin Becci wirbelt gefühlt pausenlos über die Bühne und reißt das Publikum mit. Sängerin Steffi dominiert mit ihrer sehr rockigen Stimme, doch alle Musiker haben Gelegenheit, ihre Fähigkeiten an den diversen Instrumenten zu zeigen. Songs wie das titelgebende „Ascheregen“, „In meinem Namen, der „Blick ins Nichts“ oder der finale Aufschrei „Wir sind frei“ bringen das anwesende Publikum gut in Stimmung, hier und da wird schon getanzt, und man sieht viele nickende Köpfe. Für mich ist musikalisch noch etwas Luft nach oben, ein wenig mehr Eigenständigkeit fände ich super, aber der Anfang ist mit Ascheregen definitiv schon mal gemacht.
Ganz anders und fast schon exotisch wird es mit der nächsten Band, Koenix aus der Schweiz, die auf Französisch und Schwyzerdütsch singen – wenn sie denn singen, denn viele Songs sind unglaublich mitreißende Mittelalter-Folk-Instrumentals, die sofort in die Beine gehen. Die Schweizer sind bereits seit zehn Jahren aktiv, weitgereist, haben schon mehrmals die Medeltidsvecka auf Gotland aufgemischt (bezeichnenderweise ist die Webseite der Band auf Deutsch, Englisch – und Schwedisch) und bringen diese Souveränität heute Nachmittag vom ersten Moment an auf die Bühne. Man sieht zwar nicht viel, da sich die Band meistens hinter – sagen wir – düster-kreativem Licht versteckt, doch die Mischung aus Sackpfeifen, Davul, Drehleier, diverser Flöten, Pfeifen und Bouzouki braucht auch keine weitere Untermalung. Erster großer Höhepunkt ist das französischsprachige Trinklied „Être sur soleure“, das der Band genauso viel Spaß macht wie dem Publikum. Eine kurze Verschnaufpause wird bei dem etwas ruhigeren „Hinter dem Mond“ gewährt, bevor es den restlichen Auftritt nur noch um das Eine geht: Hüpfen. Die Band wirbelt über die Bühne, leuchtende Drumsticks, Davul-Stöcke und Flöten wirbeln ebenfalls, das Publikum lässt sich von der Energie, die da freigesetzt wird, verzaubern und geht begeistert mit. Stillstehen ist bei diesem Feuerwerk aus Sackpfeifenduellen, Trommelkaskaden und purer Fröhlichkeit nicht möglich, bis zum „bitteren“ Ende, bei dem alle den Refrain von „Bi di Farende“ mitsingen. Diese Band muss man wirklich live erleben. Wer sie verpasst hat und/oder noch nicht kennt, kann sich mit Dekade 1 einen guten Überblick über die letzten zehn Jahre Koenix verschaffen.
Genauso energisch geht es mit Troll Bends Fir weiter, den Russen, die schon einige Male auf dem Tanzt! zu Gast waren und offensichtlich auch ordentlich Eindruck hinterlassen haben, so euphorisch, wie sie begrüßt werden. Die vierköpfige Band um Konstantin „Troll“ an Gitarre und Gesang und Maria „Jetra“ an diversen Flöten und ebenfalls Gesang spielt eine energiegeladene Mischung aus (russischer) Folklore und ordentlich Bratgitarren. „Beer Metal“ nennen sie ihren Stimmungsmacherstil und sehen sich da in der Tradition der Finnen von Korpiklaani, mit denen sie auch schon zusammengearbeitet haben. Ob sich die Texte wirklich um Hopfenkaltschalen und ähnlich belebende Getränke drehen, kann ich mangels Russischkenntnissen nicht beurteilen, aber das Publikum trinkt sicherheitshalber mal mit und folgt bereitwillig den in charmant-gebrochenem Deutsch gehaltenen Anweisungen von Konstantin, wie man sich bei den jeweiligen Songs zu bewegen habe. So kommt es auch schon zu durchaus amtlichen Circle Pits, wenn sich nicht gerade Flötistin Maria wie ein Wirbelwind auf der Bühne dreht – natürlich mit Flöte am Mund – oder die großartige Geigerin, die mehr hüpft als steht, und natürlich dabei weiterspielt, ohne einmal mit dem Bogen zu verrutschen. Eine musikalisch und stimmungstechnisch hervorragende Leistung, die Troll Bends Fir heute abliefern, mit ein bisschen mehr Folk-Anteil und weniger Metal-Gitarren als auf Konserve, was aber ausgezeichnet zu dem Tag passt.
Noch ein wenig verrückter wird es mit den Schweden Ye Banished Privateers, die aus der nordschwedischen Stadt Umeå stammen, wo es offensichtlich ein ganzes Piratennest gibt – die Truppe ist nämlich zu neunt angereist, und die Bühne des Werks ist mal richtig, richtig voll. Vier Mädels, fünf Jungs, alle wild und abenteuerlustig gewandet, Fiedeln, Percussion, Akkordeon, Drehleier, mehrstimmiger Gesang – die bunte Meute lässt es auf der Bühne richtig krachen und zeigt dabei auch großes schauspielerisches Talent. Uns werden nämlich nicht nur Piraten-Folk-Songs wie „Cooper’s rum“ oder „Waves roll high“ um die Ohren gehauen, nein, wir erleben auch noch mit, wie Hauptsängerin Magda den aufdringlichen und gar schändlich betrunkenen Quartermaster Blackpowder Pete ausknockt und später auch noch fast ertränkt. Wird er schon verdient haben! Wenn er nicht gerade gequält wird, übernimmt Blackpowder Pete aber auch oft das Mikro, ebenso wie diverse andere Mitglieder der wilden Meute. Man weiß also gar nicht, wo man zuerst hinschauen soll bei diesem Treiben. Ein bisschen Ruhe kehrt nach Songs wie „Colour of sin“, „Yellow Jack“ oder „Gangplank“ erst mit dem fiesesten Ohrwurm seit langem ein, „Annabel“. Eine Melodie, die man so schnell nicht mehr vergisst, wunderschön und eindringlich vorgetragen von Magda – allein dafür hat sich der Auftritt schon gelohnt. Das Publikum sieht das genauso und spendet eifrig Beifall, nachdem es vorher ununterbrochen brav gehüpft ist. Mit Gänsehaut hören wir die letzten Songs und sind uns alle einig, dass Ye Banished Privateers gern wieder nach München kommen dürfen.
Von Nordschweden geht die Reise in den Süden, nämlich zu den Italienern Folkstone, alte Bekannte für Tanzt!-Gänger, sonst sieht man sie kaum in Bayern oder Deutschland. Was sehr schade ist, denn im Mittelalter-Rock-Genre macht kaum eine Band so viel Dampf und mobilisiert vom ersten Ton so viel Energie an wie die achtköpfige Truppe. Teilweise spielt man mit vier Sackpfeifen auf einmal – zwei rechts, zwei links auf der Bühne, inklusive schöner Duelle der Sackpfeifenspieler -, die Gitarrenriffs sitzen, eine Vielzahl von Tröten treibt das Ganze zusätzlich an, und der kraftvolle Gesang von Sänger Lorenzo Marchesi ist das Tüpfelchen auf dem i. Die italienischsprachigen Texte verleihen der Band noch etwas Eigenes, und dementsprechend steil geht das Publikum auch bei Songs wie „Nella mia fossa“, „Fréri“, „In caduta libera“ oder dem etwas ruhigeren „Anna“. Folkstone hauen in ihrer Stunde Spielzeit einen Knaller nach dem anderen raus, die die kleine Verzögerung wegen des Soundchecks am Anfang schnell vergessen lassen. Ohne große Show, aber mit viel Spielfreude (und Unterstützung einiger sehr textsicherer Fans in den ersten Reihen) wird hier ein ganz feines Mittelalter-Rock-Feuerwerk abgebrannt, das kaum einen Wunsch offenlassen dürfte. Doch, bei mir – ich hätte mich sehr über „Luna“ gefreut, aber man kann nicht alles haben. Folkstone haben jedenfalls die Raumtemperatur noch mal ordentlich hochgetrieben und die Messlatte für die zwei nachfolgenden Bands hoch gelegt.
Die Tanzt!-Urgesteine Vroudenspil dürften da allerdings keine Probleme haben, auch wenn es am Anfang noch ein wenig spannend wird. Veranstalter Michael hält eine kleine Rede und bedankt sich bei allen für zwölf Jahre Tanzt! und die tolle gemeinsame Zeit vom kleinen Event in Kufstein und Rosenheim bis zur meistens ausverkauften Kulisse des Backstage Werks. Ganz besonders freut er sich, dass Vroudenspil während ihres ersten Songs „Kaleidoskop“ einen kleinen Teaser für das neue Album Panoptikum filmen lassen, das am 26. April 2019 erscheinen wird. Die Release-Party dazu wird am 13. April im Spectaculum Mundi stattfinden – merkt euch den Termin schon mal vor! Der neue Song reiht sich nahtlos in Bandklassiker wie „Knochensack“, „Püppchen“ oder „Rebellion“ ein und lässt die Vorfreude der Fans auf das neue Album sicher wachsen. Noch etwas Neues sieht man bei „Wanderer in Schwarz“ auf der Bühne – Freibeuter Petz spielt Saxophon! Das verleiht dem sowieso schon alles andere als behäbigen Sound der Band noch mehr Dynamik und setzt deutliche Akzente. Ansonsten gibt es den bewährten Piraten-Folk mit Hüpfgarantie, Flöten, Tröten und kreativen Texten („Der unwichtige Bösehold“ – immer wieder schön), zwischendurch werden wir zur Aerobic-Stunde gebeten und gehen brav (fast) alle in die Russenhocke, um dann euphorisch auf Befehl aufzuspringen und zu jubeln. Nachdem wir den „Piratentango“ getanzt und bei „Küss mich“ noch mal alles gegeben haben, ist der Auftritt der acht Münchner auch schon wieder vorbei – zwar ohne das neue Album im Gepäck, wie ursprünglich geplant, aber mit ein paar neuen Songs und einer hochenergetischen Mischung aus Bandklassikern.
Im Publikum macht sich danach zweierlei breit: gebannte Erwartung, weil gleich Schandmaul auf die Bühne kommen werden, aber auch erste Erschöpfungsanzeichen bis hin zu alkoholbedingten Totalausfällen (zu viel Troll Bends Fir gehört?). Der Tag war lang und intensiv, ja, aber es wäre doch schade, jetzt die Segel zu streichen. Schließlich wollen Schandmaul mit uns 15 Jahre „Hexenkessel“ feiern, das legendäre Konzert mit dazugehöriger DVD aus dem alten Backstage (also, einem der alten Backstages). Gespielt werden sollen hauptsächlich Songs aus den ersten drei Alben der Bandgeschichte, Wahre Helden (1999), Von Spitzbuben und anderen Halunken (2000) und Narrenkönig (2002). Darauf freue ich persönlich mich ganz besonders, denn in diesen Jahren habe ich Schandmaul viel gehört und oft auf kleinen Festivals wie dem Stustaculum oder dem Kulturknall in Murnau gesehen (oder mit dem Fanfarenzug Gernlinden im alten Backstage). Heute werden also Erinnerungen wach, und dazu passt auch die humorige Begrüßung der sechs Schandmäuler, die sich teilweise in Original-Beinkleider aus dem Jahr 2003 geworfen haben (Duckys Hose könnte in der Zwischenzeit auch als Hundedecke gedient haben, da ist man sich nicht so ganz einig). Ansonsten ist die Bühne schmucklos, nicht mal ein Backdrop zeugt davon, dass die Band normalerweise in München das Zenith füllt und in der nächsten Woche in der Lanxess-Arena in Köln ihr zwanzigjähriges Bühnenjubiläum feiern wird. Heute geht es allein um die Musik, und da fehlt sich natürlich überhaupt nichts. „Sturmnacht“ und „Herren der Winde“ stimmen uns hervorragend ein, die Band (mit Neuzugang Saskia an Geige und Drehleier) sprudelt vor Spielfreude, das Publikum ist textsicher und euphorisch. Wie es auch nicht anders zu erwarten war, und so geht es bei den nächsten Songs auch weiter – obwohl das Mitsingspiel bei „Gebt Acht!“ nicht ganz so funktioniert wie gewünscht, die hohen Frauenstimmen klingen irgendwie auch nach männlichem Gebrummel. Alles lacht, träumt bei der „Goldenen Kette“, springt wild bei der „Letzten Tröte“ durch die Gegend, und als Thomas den allerersten Song der Band ankündigt, das „Teufelsweib“, gibt es kein Halten mehr. Nach der Parole „Vogelfrei“ ist es Zeit für ein politisches Statement – kann man heutzutage ja gar nicht oft genug wiederholen -, denn wir sind „Bunt und nicht braun“. Die legendäre „Walpurgisnacht“ und „Dein Anblick“ beschließen den regulären Auftritt, bei dem es eine Freude war, den Spielduellen zwischen Birgit und Saskia zuzusehen, bei den altbekannten Melodien mitzusingen und auch lustige kleine Festivalspielchen mitzumachen, die die Band laut Thomas langsam aber mal austauschen will. Wir haben uns bereitwillig noch einmal zum Affen gemacht und dank der Befehle „Freeze“, „Slow Motion“ und „Zombie Slow Motion“ die Halle in ein Meer aus Händen verwandelt.
Klar, dass wir Schandmaul nach so viel Spaß und Emotionen noch nicht gehen lassen wollen, und es gibt noch drei Songs als Zugabe. Abgerundet wird dieser Abend durch „Willst du“, bei dem damals im Hexenkessel In-Extremo-Sänger Micha Rhein gesangliche Unterstützung beigesteuert hat. Heute meistern die Schandmäuler das Stück allein, alle Pärchen kuscheln, der Rest ist melancholisch-verträumt, ein „unbeschreiblicher Moment“, fürwahr. Danach werden wir endgültig nach vielen Stunden in einer anderen Welt in die schnöde Novembernacht entlassen.
Auch dieses Jahr war das Tanzt! ein voller Erfolg für die Fans von Folk-Rock und Mittelalter-Rock, was die euphorische Stimmung während der Auftritte und der große Andrang bei den Autogrammstunden (organisiert von Metal1.info) bewiesen. Vielen Dank an MRW Concerts, das Backstage, alle Helfer und die anwesenden Bands für viele vergnügliche Stunden und eine Reise quer durch die vergangenen Jahrhunderte. Bis zum nächsten Jahr!
PS: Keine Garantie, dass die Zahl der auf der Bühne herumspringenden Musiker*innen stimmt, aber mindestens so viele waren es auf jeden Fall.
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