„And now you’re stuck with this singer-songwriter-thing!“

20210921_4Justin Sullivan ist der Sänger und Kopf der Kult-Band New Model Army, die mich und so viele andere in den 1980er Jahren in Sachen alternativer Independent-Musik sozialisiert hat. Neunzehn Jahre nach seinem ersten Soloabum Navigating by the stars präsentiert er sein zweites Werk Surrounded. Trotz Corona kann das Konzert mit Biergarten-Tischen in der Backstage Arena Süd stattfinden. Zum Glück ist diese nicht nur draußen, sondern auch überdacht, denn Justin hat nicht nur neue Songs von der Insel mitgebracht, sondern auch englisches Wetter. Anfangs etwas zögerlich füllt es sich zunehmend und alle Tische werden besetzt, aber ausverkauft ist es heute Abend nicht. Ich bin privat hier und nicht offiziell angemeldet, daher gibt es leider auch nur wenige schwächliche Handy-Fotos. Dennoch möchte ich den Abend hier festhalten.
Mit ein paar Minuten Verzögerung ist es soweit, Justin schlängelt sich von hinten an den Tischen vorbei, um dann seitlich die Bühne zu betreten und seinen Platz auf dem Stuhl einzunehmen. Während er die Gitarre nachstimmt, fragt er schlicht: „You’re ok?“ Jemand ruft: „We’re waiting!“ und löst damit Gelächter aus, denn zum einen stimmt das natürlich, zum anderen ist es doppeldeutig, da „Waiting“ auch ein Song aus dem ersten New Model Army Album Vengeance von 1984 ist. Mit „Maps“ von deren letzten Album From here von 2019 startet der Abend, und so wird die extrem lange Zeitspanne förmlich greifbar, die Justin schon als Musiker unterwegs ist. In die ehrfürchtige Stille nach dem ersten zaghaften Applaus hinein prasselt der Regen plötzlich richtig, sodass Justin grinsend feststellt: „It’s fucking loud rain!“ Nun folgt mit „Changing of the light“ ein Stück aus seinem ersten Soloalbum Navigating by the stars von 2003, bevor er uns erklärt, dass das neue Album nicht geplant war, und er die Idee direkt abgelehnt hatte, als ihm das ein Freund zu Beginn des ersten Lockdowns telefonisch vorgeschlagen hatte. „But then, sitting on the sofa with not much to do and the guitars next to me – so I made a solo record. But I didn’t want to write about the virus“. Stattdessen schrieb er lieber über „Amundsen“ und das Rätsel „what happened to Malaysian flight MH312“, das in „Coming with me“ thematisiert wird. Seine Performance an sich ist schlicht, ein paar Scheinwerfer und etwas Nebel, der stimmungsvoll hineingeblasen wird. Aber mehr braucht es auch nicht. Justin nimmt uns allein mit seiner Aura und seiner Stimme gefangen, die er mit seinem Gitarrenspiel geschickt untermalt. Mal ruhig und gefühlvoll, mal laut und energisch, und man kann die Emotionen dabei in seinem Gesicht ablesen.
20210921_1_SWAls er zu „Unforgiven“ ansetzt, klingt es etwas schief, er bricht mit einem „aaah“ ab und muss noch einmal kurz nachstimmen. Doch dann gelingt der Einsatz, und entsprechend fällt der Applaus anschließend aus. „This is a song about love“ kündigt er nun an und scherzt: „This is not a New Model Army song. I think it’s 65 years old.“ Doch mit den ersten Noten gibt es Jubelrufe, als „No greater love“ vom zweiten Album No rest for the wicked erkannt wird, das quasi nie live berücksichtigt wird. Ich habe eine massive Gänsehaut, und es wird etwas feucht im Augenwinkel. Der Beifall wird nun richtig laut. Das neue „Rip tides“ geht nahtlos in das nicht mehr ganz so neue „Strogoula“ über, bevor Justin erklärt: „I’m still in love with this old New Model Army song.“ Das Publikum ist es ebenfalls, und die Ballade „Marrakesh“ entfaltet wie eh und je ihre Wirkung. Die nächste Gänsehaut, Tränchen wegblinzeln klappt nicht mehr. Nach dem Jubel erklärt er uns, dass er die Worte „I’m sorry“ damals tatsächlich an einer Brücke gelesen hatte, und ca. zwanzig Jahre später an einer anderen Brücke zufällig „I’m really sorry“.
„Over the wire“ spielt er energisch und steigert sich spürbar in den Song hinein. Bei der Zeile „The dawn it will come!“ am Ende hält er den Ton so lange an, bis er rot anläuft und die Lunge luftleer ist. Das neue „Clean horizon“ ist wieder ruhiger, und ein bestens aufgelegter Justin hat heute einige lustige Anekdoten parat. So erzählt er vom Gig in Nürnberg, der neben dem Zoo stattfand, und man konnte die schrägen Laute der Seelöwen zwischen den Songs hören. Ob das „This is great, or this is fucking rubbish!“ bedeuten sollte, war aber leider nicht klar. Mit „Storm and heather“ geht es weiter, bevor er bei „Where I am“ wieder richtig in die Saiten reindrischt und damit Begeisterung auslöst. Er erzählt uns, dass das aktuelle New Model Army Album From here auf der kleinen Insel Giske in Norwegen aufgenommen wurde. „If you want to feel this small and unimportant“, und hält dabei Daumen und Zeigefinger einen Millimeter auseinander, „that’s the place to be.“ Mit „Passing through“ folgt auch direkt ein Track daraus.
20210921_3Spontan berichtet er von seiner Nahtod-Erfahrung, bei der er nach drei Minuten ins Leben zurückgeholt worden ist, und die er in dem Song „White light“ beschreibt. Er habe dieses Licht tatsächlich gesehen, und es sei tausend mal besser als jeder Drogentrip gewesen. Aber stattdessen spielt er nun „You weren’t there“. Also, wenn das mit der „high-tech karaoke machine“ aka I-Phone klappt, die das Passwort zunächst nicht schlucken will. Wir müssen alle lachen, doch am Ende klappt es. Seit ich das vor 22 Jahren das erste Mal gehört habe, ergreift mich dieses Lied, und auch heute verfehlt es seine Wirkung bei mir nicht. Justins Stimme dringt mir durch Mark und Bein, und als er den Mundharmonika-Part live spielt, schüttelt mich wieder diese Gänsehaut. Er kommt noch einmal auf das Virus zurück: „I’m not Dr. Sullivan, I’m not Prof. Sullivan, I’m a fucking average person.“ Aber er weiß, dass sich die Welt unweigerlich verändert hat, und da passt „Bad old world“ textlich aktuell ins Set. Wir sollen den Refrain „la la lei la la fucking la lei“ mitsingen, bevor der Abend vorerst mit dem anfangs richtig mystisch und düster interpretierten und sich dann immer mehr steigernden „Eyes get used to the darkness“ vorerst endet. Justin verabschiedet sich nun unter Beifall und Jubel nur halbherzig, denn es ist allen klar, dass er gleich zurückkehrt.

20210921_2„After all this Covid-thing I know what you want: You want some fucking Rock ’n‘ Roll!“ – begeisterte Zurufe – „And now you’re stuck with this singer-songwriter-thing!“ Wir müssen lachen, denn er hat natürlich irgendwie nicht unrecht, dennoch sind wir gleichzeitig dankbar für diesen tollen Abend. Mit „28th May“ als letztem Stück aus dem neuen Soloalbum startet er in die Zugaben. Vor „Die trying“, das die verzweifelte und gefährliche Reise von Flüchtlingen thematisiert, erzählt Justin eine Anekdote über die Royal National Lifeboat Institution, die in Seenot geratene Menschen aus britischen Gewässern retten. Dabei sind immer wieder auch Flüchtlingsboote darunter. Der britische Politiker Nigel Farage hatte die RNLI daher als „taxi service“ für Flüchtlinge beschimpft. Am nächsten Tag gingen als empörte Gegenreaktion die Spenden an die RNLI durch die Decke, und Justin wirkt schon etwas erleichtert, als er als Fazit feststellt, dass längst nicht alle Menschen in England rechtskonservativ eingestellt sind. Mitten in „Fate“ vergreift er sich in den Saiten, hält kurz inne und meint grinsend: „I’ll be right back. Again.“ Das wirkt alles so souverän, dass es kaum auffällt, und der Stimmung tut das ohnehin keinen Abbruch. „Now the moment has come you’ve been waiting for!“, und er zieht den Stuhl beiseite. Zu „Snelsmore wood“ hält es auch mich wie einige andere nicht mehr auf dem Sitz. Justin rockt den Song mit wütender Energie, für einen kurzen Moment wirkt es fast wie eine New Model Army-Show. Und so verabschiedet er sich mit seinem ikonischen Brustklopfen und den Worten: „We’ll be back with the band – someday!“

Fazit: Eine abgenutzte Akustikgitarre und ein paar Effektpedale, mehr braucht Justin Sullivan nicht, um seine spezielle Magie zu entfalten. Auch allein, ohne Band um sich, füllt er die große Bühne mit seiner Aura und seiner enormen Bühnenpräsenz aus. Und bleibt dennoch nahbar und bescheiden, sieht sich nicht als etwas Besonderes oder gar als Star. Man spürt aber deutlich, wie sehr er es liebt, auf der Bühne zu sein und sein Publikum zu unterhalten, die Energien aufzunehmen und zurückzugeben. Dazu schaut er auch immer wieder einzelne Personen an den vorderen Tischen direkt an. „Stuck with this singer-songwriter-thing“? Liebend gern hätte ich mich noch eine weitere Stunde darin gefangennehmen lassen. Oder zwei.
Natürlich ist dies keine New Model Army-Show und auch schwer mit einer solchen zu vergleichen. Und dennoch sind Intensität und Energiedichte ähnlich hoch, wenn auch von anderer Beschaffenheit. Thank you for bringing back life and hope!

:mosch: :mosch: :mosch: :mosch: :mosch:

Tracklist:
Maps (NMA)
Changing of the light
Amundsen
Coming with me
Unforgiven
No greater love (NMA)
Rip tides
Strogoula (NMA)
Marrakesh (NMA)
Over the wire (NMA)
Clean horizon
Storm and heather
Where I am (NMA)
Passing through (NMA)
You weren’t there (NMA)
Bad old world (NMA)
Eyes get used to the darkness (NMA)

28th May
Die trying (NMA)
Fate (NMA)
Snelsmore wood (NMA)

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