Der 150-Jährige, der hoffentlich auch bald verschwindet

Anno 1871, Deutsches Kaiserreich – und 2021, BRD. Wie viele Gemeinsamkeiten und Kontinuitäten gibt es da? Was sieht jetzt noch fast genau so aus wie damals? Nicht viel, sollte man meinen. Monarchie zu Demokratie. Pferdekutsche zu Elektroauto. Und § 218 zu … § 218. Es ist immer noch der gleiche, nur gelegentlich mal bisschen reformierte § 218, der immer noch Schwangerschaftsabbrüche generell zu Straftaten erklärt und nur in bestimmten Ausnahmefällen Straffreiheit einräumt. Aber es gibt dabei noch eine andere Kontinuität, die des Widerstands gegen Abtreibungsverbote und gegen das Leid, das sie anrichten, wenn Menschen in ungewollte Schwanger- und Elternschaft, in die Illegalität oder zu heimlichen, unsicheren Eingriffen gezwungen werden. Der Widerstand gegen § 218 ist so alt wie der Paragraf selbst, auch das sollte nicht vergessen werden. Im Farbenladen des Feierwerks ist derzeit eine Ausstellung zu finden, die diese Geschichte/n eindrucksvoll illustriert, von der Einführung des Paragrafen bis heute und mit einem Schwerpunkt auf München.

Wie wenig sich an Text und Inhalt des Paragrafen tatsächlich geändert hat, zeigt ein drehbares Schild am Beginn des Rundgangs – auf der einen Seite der ursprüngliche Text von 1871, auf der anderen Seite die heute gültige Fassung. Man stelle sich mal kurz eine Welt vor, in der sich in allen Bereichen so wenig weiterentwickelt hätte wie hier, wo es um körperliche und seelische Selbstbestimmung geht. Daneben listet ein Zeitstrahl an einer Säule die Reformen, Schritte und Rückschritte des Gesetzes auf. Der Gang durch die Ausstellung zeigt dann anhand von Fotos, Zitaten, Flugblättern und Zeitungsartikeln – jeweils mit einer kurzen Einordnung versehen – die Münchner Geschichte von Aktivismus und Widerstand gegen § 218 und des Einsatzes für reproduktive Selbstbestimmung, zu der neben dem Zugang zu einer sicheren Abtreibung natürlich ebenso die freie Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln gehört, wie auch bessere Bedingungen für geborene Kinder und diejenigen, die sich um sie kümmern. Denn interessant an dem Begriff „Lebensschützer“, den radikale Abtreibungsgegner*innen gern für sich reklamieren, ist ja, dass da sowohl das Leben der Schwangeren recht egal zu sein scheint als auch das der Kinder, sobald sie erst mal auf der Welt sind. Der Körper, der da geschützt werden soll, ist in der Geschichte des Abtreibungsverbots oft genug nicht mal nominell der von Menschen, sondern der „Volkskörper“.

Am Ende des Zeitfadens gibt es eine Fläche, auf der eigene Gedanken und Ideen festgehalten werden können. Denn die Ausstellung will nicht nur Geschehenes dokumentieren, sondern auch Debatte und Austausch anregen, wie es weitergehen kann mit und hoffentlich bald ohne § 218. Die angehende Regierung hat angekündigt, die rechtliche Einstufung von Schwangerschaftsabbrüchen zumindest überprüfen zu wollen. Alles bald nur noch Geschichte? Die Zeichen stehen vielleicht nicht völlig schlecht. Aber spätestens nach dem Besuch dieser kompakten, extrem informativen Ausstellung ist klar, dass auch hierzulande (und in dieser Stadt) eine erstaunliche Mischung von sich selbst als religiös und/oder konservativ bezeichnenden Menschen, reaktionären und rechtsradikalen Strömungen, (Teilen von) Parteien und (Teilen von) Institutionen ein – sagen wir – lebhaftes Interesse daran hat, dass die Geschichte hier weiter auf der Stelle tritt oder stramm zurückmarschiert. Und Papier und Koalitionsverträge sind bekanntlich geduldig. Umso wichtiger wird es sein, für die Selbstbestimmung sichtbar und ungeduldig zu werden, zu sein, zu bleiben. Nach 150 Jahren muss man sich da wohl kaum Überhastung vorwerfen lassen.

… Und das wäre jetzt ein ganz gutes Schlusswort, aber dann gibt es auch noch eine tolle Sammlung von wunderschön gemachten Zines zu verschiedenen (feministischen, queeren, Körper-) Themen – es darf auf dem Sofa geschmökert werden, und bei Bedarf gibt es auch etwas zu trinken. Damit der Aufenthalt trotz Corona entspannt möglich ist, gilt für die Ausstellung 2G+.

Der §218 StGB. Kollektiver Widerstand – Damals und Heute
Ausstellung im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Antifeminismus von Rechts Vol. 2“ der Fachinformationsstelle Rechtsextremismus München und der Antisexistischen Aktion München
Feierwerk Farbenladen, Hansastraße 31, München
Noch bis 18. Dezember:
Donnerstag, 09.12., bis Montag, 13.12., 16:00 – 22:00 Uhr
Donnerstag, 16.12., bis Samstag, 18.12., 16:00 – 22:00 Uhr
farbenladen.feierwerk.de

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