Leise Töne, beeindruckende Zeichnungen

 

Yoichi geht 1966 mit 19 Jahren an die Universität in Tokyo, und er kommt erst nach über zweidie-sicht-der-dinge Jahrzehnten das erste Mal wieder in seine Heimatstadt Tottori (Japan), um an der Totenwache für seinen Vater teilzunehmen. Ihr Verhältnis war aufgrund der negativen Erlebnisse des vormals kleinen Jungen, hauptsächlich aufgrund der Trennung von Vater und Mutter, nicht gut.
Am geöffneten Sarg seines Vaters trifft er auch auf seine Familie, die sich sehr freut, den verlorenen Sohn wiederzusehen. Da sind seine Schwester Haruko, die Stiefmutter Tsuruko und insbesondere sein Onkel Daisuke, der Bruder seiner Mutter. Im Verlauf der Nacht kommen so manche Erinnerungen in Yoichi hoch, es werden interessante Geschichten zum Leben des Verstorbenen erzählt und so manches ins rechte Licht gerückt, an das Yoichi nur eine vage Erinnerung hat.
Nach dem großen Feuer, das im April 1952 weite Teile von Tottori und die Existenzgrundlage der Familie, ein Friseurgeschäft, zerstörte, ist vieles nicht mehr so, wie es einmal war. Der Vater arbeitet viel, um die Schulden zu tilgen, die Mutter kümmert sich um die Kinder, fühlt sich einsam. Da passiert das Unfassbare für Yoichi: seine Mutter verlässt ihren Mann und die Kinder. Haruko reagiert darauf gefasst, aber für Yoichi bricht eine Welt zusammen, und die Missstimmungen zwischen Vater und Sohn nehmen ihren Anfang.

Die Graphic Novel erzählt mit einfachen Worten das Leben eines Kindes, das von seinen Erfahrungen geprägt wird – wie wir alle. In all den Jahren hält er sich an diesen Erinnerungen fest, die nicht immer so waren, wie er diese im Gedächtnis festgehalten hat. Vor allem sein Onkel zeigt ihm die anderen Seiten seines Vaters auf, auch dass sein Vater ihm immer zugetan war – aber eben anders als seine Mutter. Schmerzlich ist das Aufeinandertreffen von Mutter und Sohn, nachdem sich diese nach der Trennung das erste Mal wiederbegegnen und wieder trennen. Aber auch hier ist vielleicht nicht alles so, wie es angedeutet wird.
Sehr eindrucksvoll wird die Geschichte durch die Schwarz-Weiß-Zeichnungen. Die zerstörte Stadt, die Trauer, Freude oder auch Nachdenklichkeit in den Gesichtern sind nachvollziehbar dargestellt. Der Leser sollte sich nur die wichtigsten Personen einprägen, um ein Hin- und herblättern zu verhindern. Etwas verwirrend sind die Sprechblasen, die nicht immer zugeordnet werden können. Ein Manko, das sich vielleicht aufgrund der Übersetzung eingestellt hat. Aber die Eindringlichkeit der Erzählung wird dadurch nicht geschmälert.
Das Buch hat leise, sentimentale sowie anrührende Seiten. Aber uns allen sind solche Eigenschaften vielleicht bereits bekannt oder sie begegnen uns in der Zukunft. Ein wichtiger Hinweis ist, dass unsere Kindheitserinnerungen eventuell auch andere Seiten haben können, die für uns zur damaligen Zeit nicht in der Gänze erkennbar waren, und wir daraufhin vielleicht ein falsches Urteil gebildet und übernommen haben. Das Buch regt auch zur Selbstreflektion an.

Jiro Taniguchi wurde 1947 in Tottori, Japan, geboren. Seine Karriere als Comic-Zeichner startete er 1972 mit dem Manga „Kareta Heya“. Ab 1974 entstanden unter der Mitarbeit des Journalisten Natsuo Sekikawa Kriminalstorys, zu Beginn der 1980er-Jahre schuf er mit Szenarist Carib Marley mehrere Boxergeschichten.
An der Serie „Botchan no Jidai Kara“ (dt. etwa „In der Zeit von Botchan“), einem Werk über das intellektuelle Leben in Japan gegen Ende des 19. Jahrhunderts, arbeitete der Zeichner ab 1986 und wurde mit Erscheinen des fünften Bandes im Jahr 1998 dafür mit dem Osamu-Tezuka-Culture-Award geehrt.
Neben weiteren Genre-Arbeiten wie „NY no Benkei“ (übers. „Benkei in New York“, 1994) begann Taniguchi in den 1990er-Jahren seinen Geschichten einen persönlichen Ton zu geben und aus dem Alltäglichen heraus zu erzählen. […] 1994 folgte „Chichi no Koyomi“ (dt. DIE SICHT DER DINGE), 1997 erschien der Band Harukana Machi-E, für den er auf dem internationalen Comicfestival in Angoulême 2003 als bester Szenarist ausgezeichnet wurde.
Dieses Schlüsselwerk erschien unter dem Titel VERTRAUTE FREMDE 2007 bei Carlsen, wurde auch in Deutschland bereits zweimal prämiert: als „Comic des Jahres 2007“ sowie – auf dem Comic-Salon Erlangen 2008 – mit dem Max-und-Moritz-Preis als „Bester Manga“.
Jiro Taniguchi gilt heute weltweit als einer der renommiertesten Manga-Zeichner. Auf Deutsch liegen bereits mehrere Werke bei Carlsen vor, weitere sind in Vorbereitung. (Quellenauszüge: Carlsen Verlag)

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Jiro Taniguchi: Die Sicht der Dinge
Carlsen Verlag, März 2008
Taschenbuch, 288 Seiten
€ 16,90
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