Die letzte echte Wikinger-Saga

Auf Die Abenteuer des Röde Orm von Frans G. Bengtsson bin ich nur zufällig gestoßen, als ich eigentlich Fachliteratur über die Wikinger gesucht habe. Anfangs war ich eher skeptisch, die Idee klang zu verrückt: Ein Schwede, der Anfang des 20. Jahrhunderts eine richtige Wikinger-Saga schreibt? Aber gelesen habe ich es dann doch, und es keine Sekunde bereut.

Der Plot entspricht einer klassischen Saga mit allem, was dazugehört: Raubzüge, Überfälle, ferne Länder, aber auch Poesie, schöne Frauen und Familienstreitigkeiten. Das wäre ja an sich wenig außergewöhnlich. Aber Bengtsson gibt dem ganzen einen netten Twist: Orm, die Hauptperson der Geschichte, will nämlich ursprünglich auf keinen Fall Wikinger werden. Er ist ein Muttersöhnchen und auch noch ein Hypochonder. Dementsprechend passt es ihm gar nicht, als er von einer Bande Wikinger auf Raubzug einfach mitgenommen wird. Im Lauf der Geschichte wächst Orm aber über sich hinaus. Er bereist Andalusien, Irland, England und sogar die Wolga, wird ein reicher Häuptling und erringt viel Ruhm und Ehre, immer begleitet von seinem besten Kumpel Toke. Dieser Toke wiederum bringt Orm auf ihren Abenteuern in reichlich Schwierigkeiten, er leidet nämlich sowohl unter einem unstillbaren Durst auf Bier, als auch unter einem unersättlichen Hunger nach den Frauen fremder Könige. Das war schon zur Wikingerzeit eine ganz miese Kombination und sorgt für viel Trubel.
Viele historische Persönlichkeiten werden von Bengtsson liebevoll in Orms Abenteuer verwoben, so auch Harald Blauzahn, der für Orms Schicksal eine wichtige Rolle spielt. Auf seinen Reisen begegnet Orm den Konflikten, die Europa im frühen Mittelalter prägten: Muslime im Süden, Christen in der Mitte, Heiden im Norden. Die Christianisierung spielt in der Geschichte eine wichtige Rolle. Orm selbst sieht das pragmatisch: Er wird zwar Christ, hält aber weiter an einigen alten Bräuchen fest. So opfert er dem Meeresgott vor seiner letzten Reise sicherheitshalber eine Ziege, man weiß ja nie.

Die Abenteuer des Röde Orm hat wirklich alles, was man von einer guten Saga erwartet: Die Kämpfe sind packend geschildert, die fremden Länder werden blumig beschrieben, und die Lacher kommen auch nicht zu kurz. Im Gegensatz zu anderen „modernen“ Wikingerbüchern ist diese Geschichte aber auch sprachlich recht nah an der Saga-Literatur. Weil die Sagas ja ursprünglich mündlich weitergegeben wurden, bestehen sie fast ausschließlich aus Hauptsätzen, direkte Rede wird selten benutzt. Zur Betonung bestimmter Elemente gibt es eine typische Negierung, zum Beispiel benutzt man anstatt „viel“ die Wendung „nicht wenig“. Diese sprachlichen Eigenheiten imitiert Bengtsson perfekt, auch in der deutschen Übersetzung bleiben sie erhalten. Das Buch kann also durchaus auch als Einstieg in die Saga-Literatur dienen.
Die Hauptfiguren sind allesamt so charakterisiert, dass ihre Aktionen trotz der uns fremden Kultur des frühen Mittelalters verständlich werden. So bleibt zum Beispiel Toke trotz seines Frauen-Raubes ein liebenswerter Kerl. Der mächtige Harald Blauzahn wiederum wird ganz klein und wehleidig, wenn er unter Zahnschmerzen leidet. So werden unpersönliche, schwer fassbare Figuren aus Geschichtsbüchern plötzlich richtig lebendig.
Der Humor im Buch resultiert zum Teil auch daraus, dass Bengtsson die Ereignisse konsequent aus der Sicht seines Helden kommentiert und ihm keine modernen Ansichten aufdrückt. Dadurch wirkt Orm manchmal beinahe naiv – aber gleichzeitig auch wieder bauernschlau. Er kann als Heide keine Christin heiraten. Kein Problem für Orm, dann lässt er sich eben taufen, völlig ohne philosophische oder ethische Bedenken, nachdem er eine Weile lang unter einem muslimischen Fürsten auch zum Muslim geworden war.

Die Geschichte selbst ist packend und wird auf ihren knapp 600 Seiten nie langweilig. Durch den einfachen Satzbau eignet sie sich durchaus auch zum Vorlesen, wobei man bei kleineren Kindern einige blutige Szenen vielleicht weglassen sollte. Die Einteilung in kurze Unterkapitel ist praktisch, wenn man gerade keine Zeit hat, ein hundert Seiten langes Kapitel am Stück zu lesen – aber es ist schwer, das Buch aus der Hand zu legen, wenn man einmal angefangen hat.

Insgesamt ist es eine Freude, das Buch zu lesen. Es empfiehlt sich sowohl für Einsteiger oder Jugendliche, die sich noch nie mit den Wikingern befasst haben, als auch für studierte Altskandinavisten, die auch noch das ein oder andere liebenswürdige Detail entdecken werden. Vermutlich ist Die Abenteuer des Röde Orm die letzte richtige Wikinger-Saga, die je geschrieben wurde.
Übrigens: Noch dieses Jahr sollen Die Abenteuer des Röde Orm in Schweden verfilmt werden. Höchste Zeit also, das Buch noch rechtzeitig zu lesen, damit die bildliche Darstellung nicht die Fantasie kaputtmacht.

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Frans G. Bengtsson: Die Abenteuer des Röde Orm.
dtv, 26. Auflage 2014. 596 Seiten.

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