Sterben will geplant sein
„Ich habe die Vision, dass Menschen wie ich selber entscheiden können, wann und wie sie sterben.“ Ein interessanter Flyer fällt mir in die Hände, als ich die Buchsendung öffne, die mir Heaven’s Gate ins Haus bringt. Ein satirischer Roman aus der nahen Zukunft, eine Vision von einem Gebäude, in dem Sterbewillige ihren selbst inszenierten Abgang gestalten können. Selbst die Pflege- und Rentenversicherung übernimmt anteilig Kosten! Das ist doch eine Überlegung wert, oder?
Oktober 2020: Lasse Wiesenthal ist seit Jahren erfolgreich im Entertainment-Geschäft, doch seine körperlichen Lähmungserscheinungen deuten auf nichts Gutes hin. Der Befund ist ernüchternd, er hat nur mehr kurze Zeit zu leben. Ein langes Dahinsiechen, wie er es bei seiner Frau erleben musste, möchte er nicht. Deshalb hat er eine großartige Idee: Heaven’s Gate! Selbstbestimmtes Sterben in einem eigens dafür gestalteten Gebäude: mit unterschiedlichen Zimmern und Möglichkeiten. Selbst die Verwertung der verbrannten Hülle ist in die Planung mit einbezogen. Zur Seite steht Lasse bei der Durchführung Benno Wiesenthal, der das Überredungstalent und die Organisationsqualitäten seines Vaters erfolgreich inhaliert hat – das muss er auch, denn die Ausfallerscheinungen seines Vaters werden immer mehr. Lasses Tochter Karla steht dem Projekt skeptisch gegenüber, aber unterstützt ihren Vater in seiner Krankheit.
So ein großer Plan braucht natürlich Investoren, unter anderem Dominik, der mit einem Startup in der Ernährungsbranche erfolgreich ist – kein Wunder bei den Verbrauchssteuern auf Fisch und Fleisch!
Sterbehilfe und Organhandel sind mittlerweile erlaubt, dies erweist sich für das Projekt als sehr hilfreich. Genauso wie die Kaffeefahrten, bei denen Sterbearrangements angeboten werden. Es gibt nach kurzer Zeit schon die ersten Interessenten, die ihre eigene Lebensgeschichte mitbringen und ihr Ende herbeisehnen.
Aber solch ein Bau ruft auch viele Gegner auf den Plan, zum Beispiel Naturschützer und Asylanten, die auf dem Gelände ein neues Zuhause bekommen sollten. Das trägt natürlich nicht dazu bei, die terminlichen Planungen einzuhalten, und auch Lasse läuft die Zeit davon …
Tommy Schmidt hat mit diesem Roman ein Thema aufgegriffen, das in der Gesellschaft keinen guten Stand hat. Umso wichtiger ist es, einen Fokus darauf zu legen, gerne auch durch eine satirische Erzählung, mich hat er damit auf jeden Fall geködert. Der Autor inszeniert surreale Szenarien (Verbrauchssteuern auf Fisch und Fleisch) und schielt in die Zukunftstechnologie (Aggle-Glasses), aber so könnte das in den 2020er-Jahren laufen. Die über 300 Seiten sind sehr ironisch aufgeladen, aber beherrschen das Todesthema ohne Tragik, das sollten wir alle vielleicht mal versuchen! Die Organspende gegen Geld und die Gehirnoperation sind eine gruselige Vorstellung, aber gehören auch zum Thema. Immer wieder lassen mich die Lebensrückschau und Himmelsphantasien von Lasse lächeln, genauso wie die Vorstellung eines immer noch nicht ganz fertig gestellten Berliner Flughafens oder der manchmal nötige Systemstart bei Autos. Das Thema Abschiedsarbeit wird gefühlvoll angesprochen, und die enthaltenen Bilder des Architektenentwurfs sind überzeugend.
Beim Lesen wird man nachdenklich, kann lachen, man wird angeregt, über das eigene Ableben nachzudenken – vielleicht ist es genau das, was der Autor möchte.
Tommy Schmidt, geboren 1960, wuchs in Hannover auf. Komponist und Bandleader. Studium an der Munich Jazz School. Spoken-Word-Performance-Artist u. a. am Benno-Ohnesorg-Theater an der Volksbühne in Berlin. Als Medien- und Aktionskünstler u. a. bekannt geworden, als er während des Oktoberfestes ein Huhn in einem Hotelzimmer an der Theresienwiese einquartierte. Artist in Residence im Wiener Museumsquartier, Gastdozent an der Technischen Universität Wien. Leitete als Geschäftsführer ein Unternehmen der IT-Branche. Seit 2000 in einer großen Werbeagentur als Texter und Konzeptioner. Seit 2009 auch Motivationstrainer. Lebt und arbeitet in München. (Quelle: CulturBooks)
Interessant wird sicherlich auch die Lesung des Autors im Muffatwerk-Cafe (München) am 3. Juli: https://www.muenchenticket.de/guide/tickets/20xil/Tommy+Schmidt.html
Tommy Schmidt: Heaven’s Gate. Satirischer Roman
CulturBooks, März 2017
356 Seiten
15,00 Euro, eBook: 9,99 Euro
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