Feuer, Sturm und ein Medusenkind

Avatarium - Hurricanes And Halos - Artwork_kleinerAvatarium – ein Ort für Avatare, Halbgötter: So erklärt die Band selbst ihren Namen, der geheimnisvoll, melodisch und höllisch vielversprechend klingt. Ursprünglich von Candlemass-Mastermind Leif Edling im Jahr 2012 gegründet, muss dieser schon bald wegen eines schweren Burnouts in den Hintergrund treten und arbeitet von da ab im Studio mit der Band. Seinen unverkennbaren Doom-Stempel drückt er dem Fünfer natürlich auf, auf den ersten beiden Alben Avatarium und The girl with the raven mask (sowie den EPs Moonhorse und All I want) finden sich neben klassischen Rocksongs viele Perlen, die auch alte Candlemass-Hörer begeistern können. Mit dem zweiten Album The girl with the raven mask setzt allerdings bereits eine soundtechnische Veränderung ein, die tonnenschweren Einflüsse gehen etwas zurück, Melodien, bei denen besonders die Ausnahmesängerin Jennie-Ann Smith brilliert, bestimmen das Bild. Wohin führt der Weg der fünf Schweden auf dem dritten Album, Hurricanes and halos?

Leif Edling hat hier zwar immer noch sechs von acht Songs beigetragen, die Studioarbeit und die Arrangements lagen diesmal allerdings vor allem bei Sängerin Jennie-Ann Smith und Gitarrist Marcus Jidell, die nicht nur auf der Bühne, sondern auch privat ein tolles Team sind. Auch personell hat sich einiges geändert: Basser Anders Iwers und Keyboarder Carl Westholm haben zu viel mit ihren anderen Jobs bei Tiamat bzw. als Kardiologe zu tun, sie werden durch Mats Rydström und Rickard Nilsson ersetzt. Einiges hat sich also getan im Hause Avatarium, und das wirkt sich tatsächlich auch auf die Musik aus.
Eröffnet wird das Album mit dem schon vorab veröffentlichten „Into the fire, into the storm“, die dynamischen Riffs und der beschwörende Gesang dieses Uptempo-Rockers könnten den Titel nicht besser umsetzen. Ein perfekter Opener für das Album und sicher auch auf der im Herbst anstehenden Europatour (yeah!). Energisch geht es weiter bei „The starless sleep“, allerdings mit einem weitaus melodiöseren Refrain, bei dem Jennie-Ann ungewohnt sanft über einem ganz wunderbaren Hammond-Teppich singt. Ein Killersong mit Siebzigerrock-Anleihen, der mit jedem Durchlauf noch zwingender und perfekter wird. „Road to Jerusalem“ beginnt mit einem Wüstengitarrenintro, zurückhaltend baut sich der Song auf und offenbart seine Qualitäten erst nach und nach. Hier ist vor allem die exzellente Gitarrenarbeit von Marcus Jidell hervorzuheben. Das über neunminütige „Medusa child“ dürfte die Doom-Fraktion der Fans sofort ansprechen, hier rutschen die Riffs einige Stockwerke tiefer und tiefer … bis im Refrain Jennie-Ann im Duett mit einem kleinen Mädchen singt (laut diverser Interviews die neunjährige Edith, eine Freundin von Jennie-Ann), völlig unerwartet und total genial. Sonst verbreitet der Song eine ähnlich mahlend-schwere Atmosphäre wie das legendäre „Moonhorse“ vom ersten Album, setzt die Intensität aber anders ein. Ein hochkomplexer Track, den man sich erarbeiten muss, der aber jede Sekunde Aufmerksamkeit wert ist. (Wer noch die Schweden Clawfinger mit „Do what I say“ kennt, weiß, wie wirkungsvoll der Kontrast zwischen harter Musik und einer Kinderstimme ist, auch wenn letztere hier anders eingesetzt wird.) „The sky at the bottom of the sea“ erinnert vom Gesang her ein wenig an „Girl with the raven mask“, was jetzt nicht die schlechteste Referenz ist – hier stimmt die Mischung aus melodiösem Refrain, nach vorn gehenden Gitarren und Heavyness. „When breath turns to air“ atmet (pun intended) den Geist der Siebziger mit dem dezenten Orgelhintergrund, dem sanften Gesang, den Melodien … ich fühle mich ein wenig an „Child in time“ erinnert, auch wenn es damit nicht zu vergleichen ist. Jennie-Ann kommt bekanntlich aus dem Jazz und Blues, sie setzt hier ihre Stimme wie bei einem Jazzsong ein – ungewöhnlich und betörend. Diesen Track möchte ich wirklich gern mal live erleben.
„A kiss from the end of the world“ fräst sich dafür umso heftiger in die Gehörgänge und die Nackenmuskulatur, um im zweiten Teil zu einer psychedelischen Jam-Session zu mutieren. Auch hier zeigen Avatarium ihre Vorliebe für ungewöhnliche Songstrukturen, die diese Band so spannend machen. Das Instrumental „Hurricanes and halos“ schließt daran nahtlos an und geleitet den Hörer sanft aus dem Album heraus, ein „richtiger“ Song wäre hier allerdings auch schön gewesen.

Avatarium legen hier ein rundum reifes Album vor, auf dem sie ihren ganz eigenen Stil immer mehr gefunden zu haben scheinen. Die Mischung aus Leif Edling als Texter und Komponist, aber sehr viel stärkerer Beteiligung am Songwriting und den Arrangements durch Jennie-Ann Smith und Marcus Jidell tut dem Ganzen äußerst gut. Doom-Liebhaber sollten allerdings lieber auf Leif Edlings neuer Spielwiese The Doomsday Kingdom vorbeischauen, Avatarium integrieren immer mehr rockige Siebziger-Einflüsse und demzufolge Geschwindigkeit und eine gewisse Leichtigkeit in ihre Songs. „Medusa child“ und „A kiss from the end of the world“ zeigen aber, dass da immer noch genug Potenzial zum langsamen und tonnenschweren Kopfnicken vorhanden ist. Unbedingt hervorzuheben ist aber vor allem die musikalische Leistung aller fünf Bandmitglieder. Lars Sköld, Mats Rydström und Rickard Nilsson zaubern einen transparenten und zugleich soliden Rhythmusteppich, Marcus Jidells Gitarrenspiel ist großartig, und Jennie-Ann Smith hat eine der schönsten Stimmen, die ich kenne.
Trotz des in meinen Augen eher entbehrlichen letzten Tracks eine runde Sache und absolut empfehlenswert. Ich freue mich schon riesig auf die Tour im Herbst, bei ihrem letzten Auftritt in München im November 2015 haben Avatarium nachhaltigen Eindruck auf mich gemacht.

Anspieltipps: The starless sleep, Medusa child

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Avatarium – Hurricanes and halos
Nuclear Blast, 26.05.17
Länge: 44:36 Minuten
Kaufen: CD € 15,99, Doppel-LP 22,99 € (bei Nuclear Blast)

Tracklist:
1 Into the Fire / into the storm
2 The starless sleep
3 Road to Jerusalem
4 Medusa child
5 The sky at the bottom of the sea
6 When breath turns to air
7 A kiss (from the end of the world)
8 Hurricanes and halos

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