Drübengrund

Alles auf Anfang. Psychic Eye Records ist ein noch junges Label für Postpunk, Dark Wave, Experimental und Noise, beheimatet in Oakland, Kalifornien. Dort nimmt die dunkle Szene gerade neuen Aufschwung, und in diesen Wiederaufbruch hinein stellte Psychic Eye Anfang des Jahres mit seinem ersten Release eine grundlegende Frage: Wo stehen wir, und wer wollen wir sein? Wie offen sind wir als Underground für die, die wirklich – und ob sie das so wollen oder nicht – jenseits des Mainstreams stehen?

sacred_spells_coverAkiko Sampson möchte mit dem Label, und mit dem Sampler Sacred spells, Raum und Aufmerksamkeit einerseits für ungewöhnliche und experimentelle Musik schaffen, andererseits speziell für Trans*-, Inter- und gender-nichtkonforme Menschen innerhalb und außerhalb der Musikszene. Sampson selbst ist nonbinär und mit der Postpunk-Band Ötzi und dem Wave-Projekt Yama Uba auf zwei hörenswerten musikalischen Baustellen unterwegs; auf Sacred spells sind weitere queere Künstler*innen in Projekten wie V.E.X., Aesthetic Barrier und The Bedroom Witch vertreten. Der Sampler insgesamt ist einem Thema gewidmet, das kaum Aufmerksamkeit erfährt (obwohl es seit dem Hungerstreik Chelsea Mannings während ihrer Haftzeit ansatzweise bekannt sein sollte): den extremen zusätzlichen Belastungen und Übergriffen, denen sich TIQ*menschen, noch mehr jene of color, in den Gefängnissen und immigration detention centers Amerikas (und der Welt) ausgesetzt sehen. Sämtliche Einnahmen, die der Sampler generiert, kommen dem TGI Justice Project zugute, einer Organisation, die sich für jene einsetzt, die damit konfrontiert sind und waren: „a group of transgender, gender variant and intersex people — inside and outside of prisons, jails and detention centers – creating a united family in the struggle for survival and freedom“.

Auch musikalisch ist der Sampler der Diversität verpflichtet und kaum über einen Kamm zu scheren – wer Cold/Dark Wave und/oder Postpunk mag, aber auch Menschen mit Sinn für (Rhythm &) Noise und Industrial sowie alle vom Freundeskreis minimalistisch-experimentelle Tanzmusik und Gefrickel werden hier ihre dunkle Freude haben.
Der Opener „Hunting song“ von Anatomy ist ein hervorragender Ausgangspunkt für diese Entdeckungsreise. Wir befinden uns irgendwo zwischen Minimal und Industrial in der Atmosphäre einer abgebrannten Beton-Ruine bei Nacht, durch die sparsam gesetzte Maschinenkrach-Samples und eindringliche Vocals wie Suchscheinwerfer wandern – und dann plötzlich –!
Nach diesem dichten elektronischen Einstand wird es mit „Ciudad“ von Cruz de Navajas dezidiert wavig, treibende Drums treffen auf eine klassische E-Bass-Line und weiter!weiter!ziehende Gitarre, das Ganze in heimelig angeschrägter LoFi-diy-Soundästhetik gehalten. Damit scheint das Terrain schon mal abgesteckt, aber es kommt später noch ganz anders und immer wieder überraschend. Ein persönlicher Favorit nach dem Opener ist mit „Ana Venus“ von Lovataraxx gleich der dritte Track – drängender elektronischer Dark Wave, bei dem es einen kaum noch auf dem Stuhl hält, sollte man ungünstigerweise gerade sitzen. In Malocculsions „Wormfood“ geht heftiger, vielschichtiger Noise-Regen auf den staubtrockenen Bassgrund nieder; ich muss mir das gleich ein paar Mal hintereinander anhören. Der kanadische New Wave von Koban, obwohl hochenergetisch, mit hervorragend schreienden Gitarren und entferntem Sisters-Anklang, wirkt dann im Vergleich wie Balsam für die Ohren.
Und so abwechslungsreich geht es weiter; eigentlich wäre jeder der Songs ein paar Zeilen wert, aber das hier ist nur eine CD-Rezension und sie wird schon wieder zu lang. Ein paar subjektive Highlights sollen aber erwähnt werden, zum Beispiel der Balance-Akt zwischen minimalistischem Chant und schönsten Pop-Harmonien, den The Bedroom Witch in „This house is no longer“ eingeht. Oder der harsche Synth-Punk von Terminal A, deren Track „Chloe“ bei mir beinahe schon Stooges-Reminiszenzen aufruft. Und „Angel“ von Yama Uba entwickelt vor allem durch die expressiven Vocals einen ganz eigenen Sog.
Vielleicht der außergewöhnlichste Track der Sammlung ist M Lamars „Scarecrow Jim Crow I’m a demon coming at you (Don’t give up on me)“, eine knapp sechsminütige Goth-Oper für Klavier und Stimme. Meine erste Assoziation war Klaus Nomi – auch M Lamar ist Countertenor und tatsächlich, falls Wikipedia nicht irrt, arbeiteten beide mit demselben Gesangslehrer. In Musik, Kunst und Performance setzt sich M Lamar intensiv mit Rassismus und rassistisch motivierter Gewalt auseinander, auch in diesem Stück, das ebenso sehr musikalisch verzaubern wie inhaltlich verstören kann und die gesamte Aufmerksamkeit der Hörenden fordert und verdient.
Mit Sigsalys „You carry“ ist man auf allerbester darkwaviger Seite – wunderbar durchleiernder Synthbass, sture Drums, vollendet schlichter Lead, ein paar wenige schmückende Elemente und zurückgenommener (Sprech-)Gesang in der typischen Ästhetik ganz hinten im Mix, als ob im Studio zu wenig Platz gewesen sei und die Vocals deswegen über die Lüftungsröhre aus dem Klo aufgenommen worden wären – perfekt!
Mentiras „Eu et el“ besticht mit einer Mischung aus warmem Echtbass und 8bit-Charme, und Stacian spendiert mit „The joy of dance“ einen technoiden Abschluss. Dass sich in dessen frohgemute Tanzbarkeit eine leichte Schrägheit einschleicht und die Harmonie gleich wieder bricht, bringt noch mal gut die thematische und musikalische Widerborstigkeit zum Ausdruck, die das ganze Projekt auszeichnet.

Hervorragende Arbeit, mit der sich das junge Label hier auf die Landkarte setzt! Einziger winziger Kritikpunkt: Die Lautstärke scheint mir zwischen den Tracks teilweise nicht ganz exakt angeglichen, bei Kopfhörern und empfindlichen Ohren muss man gelegentlich etwas nachregeln. Kein Grund für Punktabzug – ich hatte noch sehr selten einen so durchweg hörenswerten, spannenden und relevanten Sampler vor mir. Genre-Spezialisten wünsche ich viel Vergnügen bei der korrekten Beschriftung des Sub-Sub-Stil-Etiketts für jeden der 20 Tracks. Offene Ohren können sich einfach freuen auf diesen Gang durch die verwinkelten Gassen jenseits des Flusses, die unbotmäßigen Viertel und die hallenden Kanäle unter der dunklen Stadt.

Anspieltipp: Würfelt es aus. Und wenn es das nicht war, ist es der Track danach.

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Various: Sacred spells
Psychic Eye Records, Vö. 22.01.2019
9,- Euro (wahlweise mehr) als Download, 11,60 Euro (plus Porto) als CD
https://psychiceye.bandcamp.com

Tracklist:
01. Anatomy, „Hunting song“
02. Cruz de Navajas, „Ciudad“
03. Lovataraxx, „Ana Venus“
04. Malocculsion, „Wormfood“
05. Koban, „You don’t know where you came from”
06. Twin Tribes, „Tower of glass“
07. Aesthetic Barrier, „Public ambulation“
08. Maya Songbird, „Wicked attraction“
09. Zanna Nera, „Blood debts“
10. The Bedroom Witch, „This house is no longer“
11. Ritual Veil, „All black“
12. Terminal A, „Chloe“
13. Yama Uba, „Angel“
14. M. Lamar, „Scarecrow Jim Crow I’m a demon coming at you (Don’t give up on me)“
15. Shadow Age, „Montrose“
16. Cyborg Eye, „The death of Captain Rhodes“
17. Sigsaly, „You carry“
18. Mentira, „Eu e el“
19. V.E.X., „Tomorrow never comes“
20. Stacian, „The joy of dance“

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