Und gleich ein weiterer Bericht von Gwen aus dem hohen Norden – diesmal aus Dänemark!

 

Von dänischen Harlekinen und deutschen Träumen

Was macht man als Exilösterreicherin am Nationalfeiertag? Genau: nach Odense auf Fyn fahren und als freiwillige Mitarbeiterin zu einem Synthkonzert gehen. Die ”Kulturmaschine” an der Farvergade 7 ist in wenigen Minuten vom Hauptbahnhof zu Fuß erreichbar und derzeit der einzige Club Dänemarks, in dem regelmäßig Synth-/EBM-Events stattfinden. An diesem Abend in Odense feiern wir das 13-jährige Jubiläum der Veranstaltungsreihe Klubb Golem. Dieses wurde sogar mit eigens gestalteten schwarz-weißen Flyern angekündigt, die aus einem mehrseitigen Cartoon mit Figuren aus der Goth-Szene bestehen – sehr schick! Entsprechend der Jahreszeit sind die Räumlichkeiten mit Skeletten, Kürbissen, aufgesprayten Spinnen und anderen Kuriositäten dekoriert. Auch die Gäste kommen teilweise verkleidet: als Katze, Skelett oder indischer Dompteur. Der Abend verspricht interessant zu werden!

IMG_1748Wie funktioniert eigentlich die Mitarbeit als Freiwillige trotz Sprachbarrieren? Ich kann Dänisch lesen und Zugansagen und eher langsam gesprochene Sätze verstehen, aber nicht einmal das ist unbedingt notwendig, da alle fließend Englisch sprechen. Für manche Aufgaben, zum Beispiel das Aufräumen nach dem Konzert, sind gar keine Sprachkenntnisse erforderlich. Daher werde ich dafür eingeteilt. Ganz am Anfang darf ich auch kurz die Garderobe übernehmen. Schon hier fällt einem deutlich auf, dass man sich in Dänemark befindet: Man sieht mindestens drei Damen, die bei Regen, Wind und zehn Grad Celsius Außentemperatur mit Fischnetzstrumpfhose und Body oder mit BH und Stoffweste als Top ausgehen. Wie diese Gäste wohl den Sommer überleben?

Bevor die Künstler auftreten, wärmen uns noch zwei DJs auf. Lærkes Set ist etwas rockiger, aber sie spielt zum Beispiel auch Laibachs ”Tanz mit Laibach”. Das Publikum ist bunt gemischt, neben Einheimischen sind unter anderem auch Gäste aus Deutschland vertreten. Nach Lærke übernimmt Rune a.k.a. DJ Sue She. Sein Set ist mehr synthlastig mit ein bisschen EBM und vor allem keinem Mainstream, sodass aufmerksame Ohren immer wieder neue Lieder für sich entdecken können. Noch tanzen eher wenige Leute, was sich im Lauf des Abends aber ändern wird. Zwischen den Auftritten von Ras Bolding und Diary of Dreams übt sich Rune im Multitasking und arbeitet gleichzeitig als Barkeeper sowie als DJ.
SB_Ras-BoldingDanach ist es Zeit für die erste Band des Abends: Ras Bolding und Mitmusikerinnen aus Odense. Ras, ein zentraler Name der Subkultur in Odense, moderiert den ganzen Abend auch selbst, natürlich auf Dänisch. Manche mögen seinen Humor als grenzwertig einschätzen, aber ich finde die Moderation sehr lustig. Vor dem ersten Song meint Ras, dass das Set auf Video aufgenommen werden würde: ”Tretet ruhig näher, wir haben keine sexuell übertragbaren Krankheiten!” So viel zu seinem speziellen Humor …
Nach den ersten beiden Songs, von denen ”Zombiesjæler” gut zu Halloween passt, aber auch als Seitenhieb gegen Rassismus gedacht ist, stellt Ras seine Bandmitglieder vor. Am Bass und Synthesizer: Lærke Lømmel. Ebenfalls am Synthesizer und solide Vocals beisteuernd: Marie Makaber. Mie Møgunge, die sonst Maries Part übernimmt, ist diesmal nicht dabei, tritt aber nach wie vor mit Ras auf. Die Formation ist sehr konsequent in ihrem Look, denn das Harlekin-Thema zieht sich wie ein schwarz-weißer Faden quer durch alle Bühnenoutfits, teilweise in Karos, teilweise in horizontalen und vertikalen Streifen. Ras trägt sogar eine entsprechend gestreifte Jacke und kommentiert dies mit: ”Jetzt stehe ich hier in meiner Plastikjacke bei einer Temperatur, die ungefähr mit der einer nuklearen Explosion zu vergleichen ist.” Auch im Publikum sieht man zwei treue Fans im Harlekin-Look.
Beim dritten Song des Sets, eine Neuerzählung des bekannten H.C. Andersen-Märchens Snedrønningen – die Schneekönigin -, holen Ras, Lærke und Marie so richtig alles aus sich heraus. Anders als die meisten gängigen Synth-Songs entfaltet sich das Märchen über eine Länge von etwa zwölf Minuten und ähnelt in seiner Struktur eher einem Satz einer Sinfonie. Ras, der im Vorfeld mit einer Verkühlung zu kämpfen hatte, meistert seine anspruchsvollen Falsett-Einsätze souverän. Vom Dichter aus Odense geht es weiter zu den technologischen Errungenschaften der 1980er. Ähnlich wie für Welle:Erdball ist für Ras Bolding der C64 die beste Maschine der Welt. In ”Load error” trägt er den C64 wie einen Keytar und spielt auf der Tastatur ein Solo mit leichtem Vibrato.
Bevor es mit ”Ghost in the machine” weitergeht, sagt Ras den Budgetkürzungen, Kultureinsparungen und Kündigungen bei Kulturmaskinen den Protest an. Der Personalabbau trifft einige langjährige Mitarbeiter, und man weiß nicht genau, wie die weitere Zusammenarbeit aussehen wird. Auch zu späterer Stunde wird dieses Thema erneut im DJ-Set angesprochen, als Ras und Marie die Songs ”You gotta fight for your right to party” von den Beastie Boys und ”We’re not gonna take it” von Twisted Sister auflegen. Marie und Ras harmonieren gut im Duett, und die Lasershow passt besonders gut zu allen Songs, in denen es um Computer geht.
Für die Zugabe tauschen Marie und Ras das Mikrofon und den Synthesizer: Mit einem Spickzettel singt Marie Nenas ”99 Luftballons” – auf Deutsch! Obwohl das mit Dänisch als Muttersprache gar nicht so einfach ist, singt sie akzentfrei. Die gut ausgeführten Tempowechsel, die schöne Sirene und die Titelmelodie am Waldorf-Blofeld-Synthesizer verleihen dem Cover richtig Charme. Abschließend lädt Ras dazu ein, vor den deutschen Gästen Diary of Dreams die traditionelle Golem-Torte anlässlich der Feier des 13-Jahre-Jubiläums zu probieren.
Tatsächlich stehen zwei Torten, Pappteller und Besteck an der Bar. Der einzige Haken: Diese sind in Essig getränkt. Ich werde vom Barkeeper dankenswerterweise gewarnt, will aber sportlich sein und trotzdem ein Stück probieren. Das Ergebnis fällt genau so aus wie erwartet: total grauslich, nur die Glasur ist genießbar. Um den Geschmack zu neutralisieren, mache ich vom ersten meiner fünf Freigetränke des Abends Gebrauch.

SB_Diary-of-DreamsUnd zum Glück kommen ja auch schon bald Diary of Dreams auf die Bühne, zu denen man nicht mehr viel sagen muss, so bekannt sind sie. Hier in Odense hat man allerdings, wie schon vor fünf Jahren, die Gelegenheit, die Band in einem familiäreren Rahmen zu erleben. Sänger Adrian Hates wird live von einem Gitarristen und einem Keyboarder unterstützt. Das Set eröffnen sie mit ”Made in shame” vom aktuellen Album hell in Eden. Adrian hat eine tolle Livestimme mit dunklem Timbre, die er manchmal schreiend und manchmal singend einsetzt. ”Epicon” erinnert mich direkt an Carmina Burana. Auf die Dark-Wave-Ballade ”Daemon” folgt eine kurze Moderation des Sängers, in der er erzählt, dass alle Bandmitglieder krank sind. Augenzwinkernd fügt er hinzu: ”Enjoy the germs!” Tatsächlich hört man, dass Adrian nicht alle Passagen mit voller Kraft singen kann, aber er macht das Beste daraus.
Nach dem eher ruhigen ”Listen and scream” bringt das discomäßigere ”MenschFeind”, das live besonders gut zur Geltung kommt, wieder mehr Schwung auf die Bühne. Die Stimmung ist sehr gut, und Diary of Dreams zeigen vollen Einsatz. Im Vergleich zu Ras Boldings Laser-Lichtshow ist die Bühnenbeleuchtung eher zurückhaltend, was allerdings nicht auf Adrian und den Gitarristen zutrifft, die die Bühnenfläche voll ausnutzen. Adrian interagiert gekonnt mit dem Publikum. Nur bei der Ballade ”Hell in Eden” übertreibt es der Keyboarder ein bisschen mit dem Oberkörper-Mitwippen.
Von Lied zu Lied wird die Stimmung im Publikum besser und ausgelassener, kein Wunder bei Tracks wie ”Haus der Stille”, ”Traumtänzer” und ”King of nowhere”. Vor allem Letzteres überzeugt als synthig-rockiger Song. Hin und wieder dürfen sogar ein paar Metaller aus dem Publikum mitsingen. Doch ausgerechnet jetzt streikt das Mikrofon, es fängt an, zu schrammeln und sich wie ein unfreiwilliger Vocoder zu gebärden. Adrian mutmaßt, dass die Antenne locker ist. Der Tontechniker Klaus inspiziert das Mikrofon, und unter ”Vi elsker Klaus!”-Rufen (”Wir lieben Klaus!”) kann schließlich die erste Zugabe beginnen.
Die Mikrofonprobleme sind leider auch bei ”Decipher me” noch vorhanden. Ansonsten ein großartiges Lied, das live zusätzlich von Zischgeräuschen untermalt wird. Bei ”Butterfly dance” klatscht das Publikum begeistert mit. Die leicht orientalische, geloopte Melodie und der volle Einsatz der Gitarre verleihen dem Song live viel Kraft. Leider macht sich das Mikrofonproblem nach wie vor bemerkbar – seltsamerweise nur beim Singen, aber nicht beim Sprechen. Zu ”Endless nights” und ”Kindrom” wird trotzdem getanzt.
Anders als sonst verlassen Diary of Dreams die Bühne für die zweite Zugabe gar nicht erst, sondern fragen einfach, ob wir noch mehr hören wollen. JA! Daher folgen noch zwei Songs: ”Undividable”, das Geigen in den Metal einfließen lässt, sowie ”The curse”, das vor allem den Metallern aus der ersten Reihe, aber auch den anderen Besuchern Riesenspaß macht. Dabei geht Adrian streckenweise von der Bühne ab, singt und hüpft inmitten des Publikums herum. Ein würdiges Ende eines eindrucksvollen Konzertes, bei dem der Gitarrist der Schweiß heruntertropft und der volle Einsatz der Band vor allem in Hinblick auf deren gesundheitliche Angeschlagenheit besonders zu würdigen ist.

SB_Ras-Marie-DJ-SetIm Anschluss an den Auftritt von Diary of Dreams folgt ein DJ-Set von Ras Bolding und Marie Makaber. Alle DJ-Sets des Abends versorgen die Besucher mit einer ausgewogenen Mischung aus poppigeren Stücken wie Karl Bartos’ ”15 Minutes of fame”, aber auch Coldwave wie ”Unter die Haut” von Die Selektion und EBM wie ”Als wär’s das letzte Mal” von DAF. Zeitweise steht Adrian gemeinsam mit Marie und Ras auf der Bühne und tanzt mit den Gästen. Je später der Abend, desto mehr werden die Hits der 80er gespielt. ”Heart of glass”, ”White wedding”, ”Don’t go” von Yazoo und zu guter Letzt ”Wild boys” von Duran Duran.

Nun beginnt jener Teil des Abends, der den Gästen meistens verborgen bleibt: das Aufräumen. In meinem Fall bedeutet das, Ledermatten mit einem Schwamm und Spülwasser abzuwischen und zum Trocknen aufzuhängen. Der Schwamm sollte dabei nicht allzu nass sein, da die Matten sonst zu lange zum Trocknen brauchen. Dankenswerterweise wird mir ein Teil dieser Aufgabe von anderen netten Freiwilligen abgenommen. Danach wird zusammengekehrt und der Boden gewischt. Zum Abschluss des Abends sitzen die Freiwilligen und Mitwirkenden noch gemütlich zusammen.
In den frühen Morgenstunden mache ich mich dann bei Wind und leichtem Regen in Richtung Odense Central auf, um den Zug um 05:21 nach Kopenhagen zu erreichen, mit dem Öresundståg nach Hässleholm zu fahren und dort in Gesellschaft meines Katers Gustav auszuschlafen. Zu Hause ist es doch am schönsten, obwohl ich auch bei Ras Bolding couchsurfen hätte können. Im Nachhinein habe ich erfahren, dass es bei ihm sogar essigfreie Torte gegeben hätte. Na, beim nächsten Mal dann …

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