“Leben wie vor tausend Jahren”

 

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… okay, in unserem Fall eher wie vor 700 Jahren. Die Söldner des Grauen Bundes aus dem Schweizerischen Engadin haben es sich zum Ziel gesetzt, das Leben eher einfacherer Leute des 14. Jahrhunderts darzustellen. Gegründet 2011 eher als Spaßtruppe, haben sie mittlerweile den Anspruch, etwas mehr echte Geschichte und etwas mehr Authentizität einfließen zu lassen und sich an historischen Eckdaten wie der Sempacher Schlacht 1386 zu orientieren. Diese Schlacht im Kanton Luzern gilt in der Geschichte der Schweiz als Höhepunkt des Konfliktes zwischen den Habsburgern und den Eidgenossen während der Schweizer Habsburgerkriege.

Leben wie anno 1380, was heißt das? Nun zunächst einmal bedeutet es den kompletten Verzicht auf Annehmlichkeiten wie Strom, fließend Wasser und technische Spielereien. Living History oder Reenactment kann in verschieden starken Ausprägungen gelebt werden. Vom simplen Wikingerverein, der seine Darstellung auf Felle, Trinkhörner und Piratenhemd beschränkt, bis hin zu Gruppen, die alles händisch selbst fertigen und sich dabei strikt an Ausgrabungs- und Museumsstücke sowie schriftliche Belege halten. Wir befinden uns wohl irgendwo in der Mitte. Keiner von uns verzichtet auf ein Feuerzeug zum Feuer machen, ebenso wenig wie auf ein Zelt und einen Schlafsack zum Schlafen, die Sehhilfe oder moderne Unterwäsche. Die Kleidung ist aus Leinen oder Schurwolle, allerdings maschinengenäht. Kartoffeln und Tomaten haben keinen Platz auf dem Menüplan, auf den Brühwürfel zum Abschmecken verzichten wir allerdings nicht, genauso wenig wie auf den Kaffee am Morgen …

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Same procedure as every year …

Auch in diesem Jahr sollte es wieder zum Lagern nach Ehrenberg gehen. Mit großen Zelten, Sonnen-(Regen-)segeln, Feuerstelle, Bänken, Tisch und allem, was man sonst eben noch so braucht für vier Tage auf freiem Feld. Während das große Material von anderen Vereinsmitgliedern aus dem Engadin herangeschafft wurde, musste sich natürlich jeder selbst um seine private Ausrüstung inklusive Schlafmöglichkeit kümmern. Also haben mein Freund und ich unseren gesamten privaten Lager-Kram in unsere – zum Glück große – neumoderne Kutsche gepackt und sind nach Tirol aufgebrochen. Es ist unglaublich, wie viel Material sich innerhalb einiger aktiver Jahre ansammelt – und wie viel Platz zum Beispiel so ein dicker Wollumhang oder eine Teilrüstung benötigen.

Es gibt ein paar Dinge, die weiß man im Voraus als erfahrener Ehrenberg-Lagerer. Erstens: Es WIRD regnen. Egal wie gut der Sommer bisher war. Egal wie die Prognose ist. Wenn man Glück hat, entlädt es sich als Gewitterschauer, und spätestens am nächsten Morgen ist alles wieder gut. Oder es regnet von Donnerstag bis Montag durch, und das Tal versinkt im Schlamm … Ersatzkleidung, die im Auto verbleibt, Spaten zum Gräben ziehen und warme Gewandung gehören daher zur Ehrenberg-Grundausrüstung. Zweitens: Die Organisation ist pures Chaos. Sie wissen, wie viele Gruppen kommen, sie wissen, welches Jahr dargestellt wird, sie wissen, wie viel Platz pro Gruppe angemeldet wurde, sie kriegen es trotzdem nicht hin. Jedes Jahr. Eigentlich ist Ehrenberg – oder auch Ehrenberg, die Zeitreise – nach Epochen gegliedert und die Gruppen so platziert. Wir wurden dieses Jahr mitten im Wikingerbereich untergebracht, also Frühmittelalter. Mit nicht mal der Hälfte der Fläche, die wir eigentlich benötigt hätten. Zum Glück hatten wir sehr nette Nachbarn, die dasselbe Problem hatten und mit denen wir eine spontane Spätantike-meets-Spätmittelalter-„WG“ gegründet haben. 1000 Jahre Geschichte auf 30 Quadretmeter abgedeckt, nur eine Feuerstelle und ein Sonnensegel für alle, spätmittelalterliche Bänke neben römisch angehauchten Hockern. Danke nochmal an die Berner Graureiherrotte für das trotzdem vergnügliche Wochenende. Drittens: Es war trotzdem ein klasse Wochenende!

 

Eintauchen ins einfache Leben

Nach dem Aufbau des Lagers und der Schlafplätze in den Zelten beginnt das eigentliche Lagern. Raus aus den Alltagsklamotten, rein ins 14. Jahrhundert. Als Frau trage ich ein weißes Unterhemd aus Leinen, ein buntes Überkleid, vielleicht ein zusätzliches wollenes Oberkleid an ganz kalten Tagen und einen Umhang, Leder- oder Holzschuhe und ein Kopftuch. Meinen Kram verwahre ich in Lederbeuteln an meinem Gürtel. Die Herren tragen schicke Beinlinge, Bruche, Unterhemd, Tunika und Leder- oder Holzschuhe. Wie eine Kollegin meinte: Reenactment ist dann, wenn Frauen Männerstrapse sexy finden …

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Was machen wir also so den ganzen Tag auf Lager? Nun zum einen haben wir diverse Verpflichtungen seitens des Veranstalters: beim Umzug mitlaufen, Kämpfer für die Schlacht stellen (romanischer Kampfschrei „Viva la Grischa – Es leben die Grauen!“), als lebendige Dekoration den Markt bereichern. Zum anderen vertreibt man sich die Zeit mit Kochen, Handwerk (Brettchenweben, Nähen, Schnitzen …), guten Gesprächen, Schlendern über den Markt und Einkaufen. Befreundete Gruppen besuchen, Feuershows und Konzerte sehen sind auch gern gewählte Optionen. Zum Erhalt unserer Körperhygiene steht jedes Jahr ein Zuber zur Verfügung, also eine große hölzerne Wanne, gefüllt mit warmem Wasser – öffentlich, ohne große Abschirmungen, direkt am Hauptweg. Das ist es auch, was immer wieder für Irritation bis Entsetzen bei den Touristen sorgt. „Die sind ja nackt?!“ Jaaaa, gebadet wird in der Regel nackt. Und im Jahre 2015 auch nicht nach Geschlechtern getrennt. Mit viel Bier und Obst. Ein Highlight eines jeden Lagers, dieser gemeinsame Zuberbesuch.

Auch geschichtlich hat das Gelände einiges zu bieten. Einst uneinnehmbares Bollwerk und wichtigste Zollstation zwischen der nördlichen und südlichen Handelsroute, gehört die Klause mit den umgebenden Burgen und Festungen heute wohl zu den ältesten und wichtigsten Festungsanlagen im nördlichen Tiroler Voralpenland. Es lohnt sich immer, zur Burgruine Ehrenberg aufzusteigen, alleine der Blick über die Landschaft ist atemberaubend. Seit einigen Monaten spannt sich die Highline179 über das Klausenareal, eine Seilhängebrücke in schwindelerregender Höhe, die die Ruine Ehrenberg mit dem Fort Claudia verbindet. Trotz Höhenangst habe ich es gewagt und dieses stark schwankende, zugige Ungetüm überquert. Für Menschen mit weniger Todesangst bestimmt super, das Mittelalterfest von oben zu sehen. Für mich eher suboptimal.

Ein Teil unserer Männer hat zudem Rüstung und Waffen, mit denen entweder Showkampf oder seit kurzem Vollkontaktkampf ausgeführt werden. Vollkontakt ist ein starker Trend seit ein paar Jahren. Im Gegensatz zum einstudierten Showkampf wird hier richtig gegeneinander gekämpft. Regeln gibt es wenige, die einzigen Einschränkungen sind das Verbot geschärfter Waffen und das Verbot von Stechbewegungen während des Duells. Sieger ist der, der am Ende noch auf seinen Beinen steht oder in Mann-Mann Duellen nach Punkten gewonnen hat, ähnlich dem Boxen.

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Kulinarische Genüsse

Die meisten Leute, die schon auf Märkten waren, werden mir zustimmen, Mittelalteressen ist verdammt lecker. Fleischlastig zwar, aber lecker. Und mittlerweile gibt’s auch durchaus vegetarische Alternativen zu finden. Und mal ehrlich, was gibt es Feineres, als an einem Freitagnachmittag an einem schattigen Plätzchen zu sitzen, mit einem Humpen Kirschbier vor sich und einer leckeren Hanftasche in der Hand. Am Samstagabend steht bei uns traditionell Käsefondue auf dem Lager-Speiseplan. Nicht besonders authentisch, aber gesellig, mit den Nachbarn, mit Freunden. Zum Glück hat auch in diesem Jahr das Wetter gehalten. Sieben Laib Brot und 5 kg Käse wurden vernichtet. Sonntagnacht haben wir aus allen Resten in der Nahrungstruhe noch einen Eintopf gekocht – im strömenden Regen. Weil ohne Regen kein Ehrenberg. Trockene Zelte beim Abbauen gibt’s nicht. So sind die Regeln. Immerhin stand unser Lager auf der Frühmittelalterseite, die säuft bei starkem Regen wenigstens nicht sofort ab.

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Na dann, bis zum nächsten Jahr, wenn dann wieder „Viva la Grischa!“ ertönt und die Schweizer Söldner im Klausental ihre Zelte errichten!

Weitere Informationen zu den Söldnern des Grauen Bundes findet Ihr unter https://www.facebook.com/groups/124863127591964/

Vielen Dank an Earwen für diesen interessanten Bericht!

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