„Nichts ist blöd genug, um nicht mal darüber nachzudenken“
– Sylvia Witt –
Jedes Festival gleicht der Wildnis und die Besucher der bunten Fauna, die man dort antrifft. Keiner weiß das besser als Oliver Uschmann, der in seinem Buch die über Jahre hinweg gesammelten Erkenntnisse vorstellt. Neben den Besuchern, werden auch die Künstler in Kategorien unterteilt, das Festivalessen unter die Lupe genommen und – ganz wichtig: alle Rituale erklärt. Ein Musikfestival ist eine eigene, kleine Welt, mit speziellen Regeln und Gattungen, die hier allesamt ausführlich vorgestellt werden.
Oliver Uschmann ist Musikjournalist und Autor. Er hat sie mitgemacht, die großen Festivals wie Wacken oder Rock am Ring. Die dabei gesammelten Erfahrungen waren viel zu wertvoll, als dass er sie für sich behalten konnte. Gut so, denn nun hat jeder eingefleischte Besucher von Rock im Park oder der schüchterne Neuling beim Summer Breeze den ultimativen Führer. So kann man schnell und einfach herausfinden, welcher Kategorie der Nachbar auf dem Zeltplatz zuzuordnen ist.
Gut: Die Krankenschwester, weil sie alles dabei hat, was man auf jeden Fall braucht; der Kegler, weil keiner großherziger selbstgemachten Nudelsalat und gutes Bier anbietet.
Schlecht hingegen: Der Barbar, der ist dann doch etwas rauer; der Choleriker, weil man von vornherein verloren hat; die Vandalen – da ist es egal, ob sie in direkter Nachbarschaft randalieren oder weiter entfernt: Sie finden immer ihre Opfer, zünden Müllberge und Dixiklos an und vermöbeln gerne mal jemanden. Ihre Trophäen sind die Kabelbinder der Security, mit denen sie endlich dingfest gemacht wurden.
Bereits hier erkennt man sich selbst, seine Mitreisenden und die umgrenzenden Festivalbesucher des letzten Konzertsommers wieder und kann sicherlich uneingeschränkt zustimmen. Uschmann bietet einen besonderen Service: Die fünf Lieder einer jeden Kategorie, das Motto derselben und Verhaltenshinweise, trifft man auf ein Exemplar dieser Spezies.
Weiter geht es mit den Rockern selbst, die auf, hinter, vor der Bühne stehen und das Publikum anschreien, begeistern, ignorieren oder mit lustigen roten Kappen amüsieren.
Da ist die Elfe, die fein über die Bühne schwebt und mit zartem Stimmchen ihre Lieder ins Mikro haucht, etwa eine Katie Melua oder Björk. Daneben steht die Röhre, ebenfalls weiblich, die so manchem männlichen Frontmann die Show stiehlt und ihm zeigen kann, wie man nun richtig growlt – man denke an Bonnie Tyler oder Arch Enemy-Frontfrau Angela Gossow.
Manche Musiker können ohne Nikotin gar nicht mehr überleben, frische Luft würde zum sofortigen Tod führen, daher sieht man Peter Maffay, E-Gitarren-Gott Slash oder Lemmy Kilmister nur mit Glimmstängel im Mund.
Tragisch wird es, so weiß Uschmann zu berichten, wenn man auf die Kategorie Männerherzen trifft: Der Sänger war unsterblich und leider auch unglücklich verliebt. Das gebrochene Herz spiegelt sich fortan in jeder Platte und ausnahmslos jedem Song wider, etwa bei Bruce Springsteen oder Jupiter Jones.
Schließlich wird die Fangemeinde endlich mal aufgeklärt, wie das mit den „Amtlichen Brettern“ ist: Todesbretter, Britische, Satanische, Wahre, Christliche Bretter stehen da auf den Bühnen. Dazu zählen unter anderem Marduk, Korn, Manowar oder Overkill.
Überhaupt glänzt der Autor nicht nur mit viel Wissen über Bands und kategorisiert diese übersichtlich, nein, für den Laien bietet er auch nach jeder Beschreibung eine Auswahl an Musikgruppen und Alben, damit das Einordnen beim nächsten Open Air leichter fällt.
Auch die Verhaltensrituale sind genauestens aufgeführt. Schließlich wäre es kein guter Festivalführer und ein Überleben auf diesen Veranstaltungen unmöglich, kennte man sich nicht mit Dingen wie der Bierrutsche, dem Beflaggen, Crowdsurfing oder gar der Festivalreligion „Helga!“ aus. Wichtig ist auch die richtige Benutzung der aufgestellten Dixiklos, nämlich … genau: Mit dem Einkaufswagen reinfahren, die blauen Häuschen anzünden oder sie einfach ignorieren. Außerdem darf man nicht die Skulpturen, die Beuys Tränen der Rührung in die Augen treiben würden, oder gar die Schilder mit hochgeistigen Sprüchen, wie „Titten raus, es ist Sommer!“ vergessen.
Wenn sich Uschmann um die Ernährung bemüht, denkt man sicherlich lächelnd an die eigenen Vorräte, die unbedingt dabei sein müssen: Bier. Das Grundnahrungsmittel eines jeden Festivalbesuchers. Keine Mixgetränke, denn: „Das vorgefertigte Biermischgetränk ist der Untergang des Abendlandes.“ (S. 263), und untergräbt zudem das strikte Obstverbot auf dem Gelände.
Obst, genau: Obst sieht man teilweise verschüchtert bei Lese-Lauras rumliegen, wird der Genuss desselben aber entdeckt, drohen harte Strafen. Bleiben noch nie verzehrtes Toastbrot, das die Weltherrschaft plant, Fertignudelgerichte, die süchtig machen und das Grillen. Ohne Grillen geht gar nichts! Dazu gehört ordentliches Fleisch. Vegetarier-Weltverbesserer legen lieber Auberginen und Zucchini auf den Rost, eine Freude für Gott, der beide Gemüsesorten nur zum eigenen Amüsement erschaffen hat.
Auch die Schlafplätze sind beschrieben. Dabei sollte man die Finger von 1er-Zelten lassen und alleine in einem 2er-Zelt nächtigen! Sofa nicht vergessen und tunlichst die Nachbarschaft zur lautbrummenden Generatorhölle vermeiden, rät Uschmann.
Ganz zum Schluss kommt die Security: die Sicherheitskräfte der Finsternis und des Lichts. Der Autor behält auch hier recht, sollte sich aber bei zukünftigen Festivalbesuchen vor ersteren in Acht nehmen, möchte er das Gelände lebend verlassen.
Im Anhang befindet sich ein Register aller genannten Bands.
Das kleine Büchlein würde sich schnell lesen lassen, denn es ist flüssig geschrieben. Doch beim Lesen denkt man an vergangene Festivalbesuche und küsst des Öfteren den Boden, weil man vor Lachen vom Stuhl gefallen ist, das unterbricht den Lesevorgang. Mit viel Witz und Charme beschreibt Uschmann das Rockreich. Da kann keiner widersprechen, denn der Autor hat recht: So ist es! Das Buch macht sehr viel Spaß und es erscheint zum richtigen Zeitpunkt, beginnt doch gerade wieder die Festivalsaison, hängen die Tickets für Wacken, Summer Breeze oder RIP schon lange an der Pinnwand und wird bereits fleißig geplant, wer wann wie zum Campingplatz kommt.
Zusätzlich amüsiert Uschmann mit Vor- und Nachwort. Darin sind zwei Dialoge mit seiner Frau Sylvia Witt enthalten.
Um das Beschriebene zu veranschaulichen, enthält das Buch noch ca. 30 Schwarzweißfotos vom Open-Air-Leben.
Ein sehr gelungenes Buch, das jedem Hardcorefestivalbesucher ans Herz zu legen ist, wenn er die Zeit zwischen Wachwerden und der ersten Band, die er sich anhören wird, überbrücken möchte. Aber auch für jeden Grünschnabel, der endlich alt genug ist, um sich in die Hölle zu begeben, ist die Lektüre geeignet, sollte man doch niemals unvorbereitet Neuland betreten.
Vielleicht wird man in diesem Sommer nicht nur bei Lese-Lauras die neue Pflichtlektüre mit entsprechenden Markierungen auf dem Zeltplatz vorfinden.
Zukünftiger Anblick auf Festivals?
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Oliver Uschmann – Überleben auf Festivals. Expedition ins Rockreich
Heyne Hardcore, 2012
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