Die Vergangenheit bewahren

Mit zarten zwölf Jahren erbt Mackenzie die Aufgabe ihres Großvaters: Er war ein Wächter, der den Raum zwischen den Lebenden und den Toten sauber hält. Die Toten, oder vielmehr Abbilder von ihnen, Erinnerungen, Gedanken, werden schlafend im Archiv gelagert, um die Vergangenheit zu bewahren. Doch hin und wieder erwacht eine dieser „Chroniken“, wie sie genannt werden, und muss eingefangen werden. Nach dem Tod ihres Großvaters übernimmt Mackenzie nun diese schwere Bürde. Doch Jahre später, nach dem Umzug ihrer Familie in ein ehemaliges Hotel, gerät plötzlich alles aus den Fugen: Immer mehr und immer gefährlichere Chroniken erwachen, und in Mackenzies neuem Zimmer scheint etwas Schreckliches geschehen zu sein. Aus Neugierde recherchiert sie weiter und deckt eine Verschwörung auf, die das Archiv in seinen Grundfesten erschüttern wird.

Das Mädchen, das Geschichten fängt ist keine klassische Fantasy. Natürlich ist es fantastisch in dem Sinne, dass es eine Welt neben unserer gibt, in der die Erinnerungen an Tote aufbewahrt werden. Trotzdem ist dieses Buch kein Märchen, keine Urban Fantasy oder dergleichen. Es gibt keine Magie, die Mackenzie hilft, wenn sie gegen gewalttätige Chroniken kämpfen muss. Ihre ganze Welt ist zusammengebrochen, aber immer, wenn ein neuer Name auf ihrer Liste erscheint, muss sie sich aufraffen und wieder in die Narrows – den Raum zwischen Archiv und der Welt der Lebenden – gehen, um die entflohene Chronik zu fangen. Ihre innere Zerrissenheit, die tiefe Trauer und Hilflosigkeit beschreibt Victoria Schwab ganz großartig, sodass sich einem beim Lesen eins ums andere Mal aus Mitleid das Herz zusammenzieht.

Die Probleme und Sorgen des Teenagers Mackenzie kollidieren brutal mit denen der Wächterin Mackenzie, und man fragt sich, ob diese beiden Welten sie nicht langsam zerreißen. Doch was ihr die Kraft zum Weitermachen gibt, ist stets der Gedanke an ihren Großvater. Flashbacks skizzieren die letzten Gespräche, die sie mit ihm vor seinem Tod geführt hat und machen klar, wieso sie tapfer weiterkämpft.

Was wie eine Jugend-Fantasy Geschichte beginnt, die ein wenig an Neil Gaimans Coraline erinnert, entwickelt sich schnell zu einem spannenden Kriminalfall, gemischt mit dem richtigen Maß an Drama und Romanze. Vor allem ist es aber ein echter Page-Turner: Man muss einfach weiter blättern! Was geschah vor 60 Jahren in dem ehemaligen Hotel? Und was wissen die alten Bewohner? Was verbirgt sich hinter der Chronik, die entgegen aller Regeln nicht wahnsinnig wird und tagelang in den Narrows umherspukt? All das sind Fragen, die den Leser einfach nicht loslassen und am Ende zu einem aufregenden Finale hinführen.

Das Mädchen, das Geschichten fängt ist eine spannend und emotional erzählte Mischung aus Fantasy, Krimi und Drama. Ein schnelles Lesevergnügen, das den Leser in eine fremde Welt entführt, die so fremd gar nicht ist. Besonders die Gefühlswelten von Mackenzie sind so lebhaft und greifbar beschrieben, dass man sich in ihren schrecklichen Verlust und ihre Verlorenheit perfekt hineindenken kann.

Eine echte Empfehlung für Fans von Neil Gaiman und Christoph Marzi, die sich auch gern mal mit weltlicheren Problemen auseinandersetzen.

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Victoria Schwab – Das Mädchen, das Geschichten fängt
Paperback, Heyne Verlag, 2014
432 Seiten

13,99€ 
Ebook: 10,99€
Victoria Schwab

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