Virtuelle Realitäten

otherland1Wir schreiben das späte 21. Jahrhundert. Es ist für die Menschen zur Normalität geworden, sich in einem virtuellen Universum aufzuhalten – eine Quelle an Informationen und Kommunikationsmöglichkeiten und natürlich ein wunderbarer Zeitvertreib. Durch Implantate, die direkt mit den Sinnesnerven verbunden sind, ist es dem User möglich sich mithilfe frei gestaltbarer und veränderlicher „Sims“ in das Netz einzuloggen und virtuelle Realitäten und Simulationen hautnah zu erleben. Viele Menschen verbringen den Großteils ihres Lebens in virtuellen Realitäten. Die Qualität des Netzzugangs kommt einem sozialen Statusmerkmal gleich, die Kluft zwischen Arm und Reich wird immer größer.
otherland2Als ihr Bruder nach einem Ausflug in einen virtuellen Nachtclub in ein unerklärliches Koma fällt, beginnt die südafrikanische Dozentin für Virtualitätstechnik Irene “Renie” Sulaweyo Nachforschungen anzustellen. Sie wird dabei von einem ihrer Schüler, dem kleinen Buschmann !Xabbu unterstützt, der in beinahe jeder Situation eine Legende seines Volkes zu Rate ziehen kann. In den Vereinigten Staaten versucht der 14-jährige, unheilbar kranke Orlando Gardiner hinter das Geheimnis der Goldenen Stadt zu kommen – ein Bild aus einer virtuellen Realität, das den äußerst begabten Jungen nicht mehr loslässt. Und dann gibt es da noch Paul Jonas, ein sowohl physisch als auch psychisch Gefangener des ältesten und vermutlich reichsten Menschen der Welt, Felix Jongleur. Jongleur ist Vorsitzender einer Gruppe, der die reichsten und mächtigsten Menschen der Welt angehören, der Gralsbruderschaft. Sie haben ein unvergleichliches, virtuelles Universum errichtet, das Gralsprojekt, auch „Otherland“ genannt. Die Technik, die dieser Ansammlung an virtuellen Welten zugrunde liegt, ist weitaus fortgeschrittener als alle anderen bekannten Welten im Netz. Im Gegensatz zum Rest des virtuellen Raums benutzt „Otherland“ auch das menschliche Bewusstsein. Kinder werden im virtuellen Raum gefangen gehalten und können nicht mehr in die reale Welt zurückkehren – so wie Renies Bruder.
Renie und !Xabbu müssen versuchen in „Otherland“ einzudringen und hinter seine Geheimnisse zu kommen. Doch haben sie sich erst einmal eingeloggt, können sie nicht mehr offline gehen …

otherland3Autor Tad Williams passt seine Sprache dem fortgeschrittenen 21. Jahrhundert an – neue Begriffe, neue Schimpfwörter. Die Wortwahl ist lebendig und wie immer bei Williams unglaublich blumig und dem Charakter angepasst. Eine Story in vier Bänden auf je beinahe 1000 Seiten auszudehnen kann manchen Leser erst einmal vor ein scheinbar nicht zu überwältigendes Hindernis stellen. Tad Williams beschreibt jeden Schauplatz und jede Szene extrem detailreich, dadurch wirkt das Geschehen in die Länge gezogen und treibt die Handlung nicht besonders schnell voran. Diese Detailverliebtheit mag manch einem zu viel erscheinen, gehört aber zu Williams typischen Stil – dieser Mann scheint vor Ideenreichtum überzuquellen. Ebenso detailreich wie die Welten, die er beschreibt, sind auch seine Charaktere. Es sind sehr unterschiedliche, allesamt in der Handlung gleichwertige Protagonisten, die der Autor da erschaffen hat. Und ein jeder von ihnen hat seine individuellen Schwächen und Stärken, seine Eigenheiten und seinen Platz in der Geschichte. Man möchte keinen einzigen davon missen.

Die einzelnen Bände der Otherland-Reihe haben keine in sich abgeschlossene Handlung. Entsprechend werden im ersten Teil zunächst die meisten der Protagonisten vorgestellt und einige Handlungsstränge eingeführt, die erstmal zusammenhanglos erscheinen. Schauplätze und beteiligte Personen wechseln sich häufig ab, enden oft auch noch mit Cliffhängern. Dadurch ist Otherland manchmal nicht ganz flüssig zu lesen, es kann einen richtiggehend wütend machen, wenn an den spannendsten Stellen auf einmal von Renie und !Xabbu zu Orlando oder einem der anderen gewechselt wird. otherland4Aber in gleichem Maße steigt auch das Tempo des Lesers ungemein. Der Erzählstil ist ohnehin so mitreißend intensiv, dass ein Eintauchen in die Welt von Otherland und das Mitfiebern mit den Charakteren nicht schwerfällt. Otherland ist ein Meisterwerk der fantastischen Fantasy und gleichzeitig ein Werk, das sich schwer in eine Schublade einordnen lässt. Tad Williams hat eine einzigartig fantasievolle und zugleich realistische Welt erschaffen, die ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten unterliegt.

Otherland hat ziemliches Suchtpotential. Wen die knapp 1000 Seiten von Stadt der goldenen Schatten bereits fesseln konnten, der wird gerne in den virtuellen Realitäten verweilen und auch die weiteren drei Bände verschlingen. Wem Band 1 schon zu viel des Guten und vielleicht auch ein bisschen zu komplex war, der wird auch mit den weiteren Bänden nicht glücklicher werden. Und diejenigen, die sich durch Epen wie Game of Thrones gefunden haben, sollte Otherland in seiner Vielfältigkeit und seinem Reichtum an Persönlichkeiten absolut begeistern können!

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Tad Williams: Otherland
aus dem Englischen von Hans-Ulrich Möhring
Klett Cotta Verlag, 1. Aufl. 2016

Band 1: Stadt der goldenen Schatten, 936 Seiten
Band 2: Fluss aus blauem Feuer, 784 Seiten
Band 3: Berg aus schwarzem Glas, 816 Seiten
Band 4: Meer des silbernen Lichts, 1072 Seiten

je 15,- €, broschiert

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