Kopfhörer und Dauerrotation

Amorphis – von „amorph“, also „gestaltlos, formlos“. Das eröffnet dieser höchst wandelbaren Band, die sich aber trotzdem immer treu geblieben ist, natürlich viele Möglichkeiten. Angefangen haben die Finnen als astreine Death-Metal-Band, haben sich davon allmählich hin zu hartem Metal mit cleanem Gesang entwickelt, um schließlich eine höchst tiefenentspannte Phase mit 70er-artigem Rock zu durchleben. Manchen war diese Phase ein wenig zu lässig, auch die Band schien den nötigen Antrieb nicht mehr zu haben, doch dann änderte sich alles, als Pasi Koskinen den Sängerposten aufgab und Tomi Joutsen das Mikro übernahm. Seither – also auch schon über zwölf Jahre – regieren wieder Brachialität gepaart mit hochgradiger Melodiösität, Growls und mitreißendem Klargesang; anders als früher, aber trotzdem immer Amorphis. Doch auch diese Mischung hatte sich bis einschließlich des Albums Circle ein klein wenig abgenutzt, weshalb das 2016er-Album Under the red cloud wie der nötige Befreiungsschlag wirkte. Wieder brutaler, mehr Growls, mehr Druck – so mussten Amorphis (meiner Meinung nach) klingen. Wie geht’s jetzt also weiter mit dem brandneuen Album Queen of time?

Die ersten Töne von „The bee“ erinnern an die Psychedelic-Phase der Band, begleitet von sphärischem weiblichen Gesang, und man fühlt sich ganz stark an „The way“ und ähnliche Songs erinnert, bis Tomis Growlen durch die Boxen röhrt, untermalt von majestätischen, orientalisch anmutenden Riffs und Arrangements. Auch Kehlkopfgesang aus Tuwa (von Albert Kuvezin, Huun-Huur-Tu/Yat-Kha) ist in den Song integriert, der damit so spannend und abwechslungsreich ist wie ein Überraschungsei. Und trotzdem 100% Metal. Wow!
„Message in the amber“ überrascht gleich mal mit einem folkloreartigen Riff, das einem garantiert tagelang nicht mehr aus dem Kopf geht, doch auch hier darf man sich nicht täuschen lassen – der Song brät einem gewaltig eins über, die ruhigen Passagen gewähren jeweils nur kurze Erholung. Überraschend ist der Mittelteil mit den himmlischen Chören – was aufs erste Hören ein wenig too much, etwas zu überladen wirkt, entpuppt sich beim zweiten Hören als Geniestreich, als der Chorgesang immer mehr in das folkige Riff und Tomis Growls integriert wird. „Daughter of hate“ beginnt ein wenig verstolpert (was natürlich Absicht ist), man horcht auf, lässt sich von Tomis zartem Gesang verführen, die Melodie melancholisch-verträumt, bis einem der Refrain dann ordentlich die Haare nach hinten föhnt. Intelligent gebrochen wird die Brutalität von einem kleinen Saxophon-Einsprengsel von Jørgen Munkeby (obwohl Saxophon mein absolutes Hassinstrument ist – hier passt es seltsamerweise), bevor Tomi und die anderen wieder kontrolliert loswüten. Highlight sind die gesprochenen finnischen Zeilen, die Texter Pekka Kainulainen atmosphärisch vorträgt. Wie schon die beiden Vorgänger ist auch dieser Song eine Wundertüte, auf den man sich einlassen muss – und den man laut hören sollte! Etwas eingängiger und für manche vielleicht auch erholsamer ist dann „The golden elk“, das immer noch ordentlich Tempo macht, aber etwas weniger komplex aufgebaut ist und an einige Signature-Songs der Band von den früheren Alben erinnert. Dank orientalischen Streichern und Oud-Solo von Affif Merhej wird’s aber nicht zu sehr „ach, hatten wir doch schon mal“. Das denke ich allerdings dann doch bei „Wrong direction“, einem Song, der absolut typisch Amorphis ist und sicher live hervorragend funktionieren wird, mit seinen glasklaren Gitarrenläufen und der höchst eingängigen Melodie. Ich bin von dieser Platte und ihrer Ideenvielfalt dagegen schon ein wenig verwöhnt und nörgele hier auf sehr, sehr hohem Niveau: Jungs, da habt ihr es euch leicht gemacht!
„Heart of the giant“ versöhnt mich dann aber zum Glück sofort wieder und erinnert mit seinen orientalischen Melodien, den Chören und überhaupt der ganzen proggigen Atmosphäre an meine Lieblinge von Orphaned Land – kein Wunder, hat Jens Bogren doch beide aktuellen Alben produziert und deutliche Spuren hinterlassen. Den Song würde ich gern mal von beiden Bands zusammen auf der Bühne sehen.
„We accursed“ funktioniert nach demselben Muster wie die meisten Songs des Albums – Growls, überraschende Hooks und Einsprengsel, eine perfekte Soundwand … und ausgerechnet hier habe ich das Gefühl, dass vielleicht ein bisschen viele Ideen verbraten wurden. Aber auch das ist wieder Nörgeln auf höchstem Niveau. Ähnlich geht es mir mit „Grain of sand“, das grundsätzlich auch alles richtig macht, mich aber erst in der zweiten Hälfte Dank Growls und Tempo mitreißt.
Mit „Amongst stars“ folgt sicher für viele der Königstrack des Albums, denn hier gibt sich Anneke van Giersbergen mit ihrer überirdisch schönen Stimme die Ehre, die sich perfekt in den typisch dynamischen Amorphis-Sound einfügt und tolle Akzente setzt. Weitere Spielereien sind hier nicht nötig, die Konzentration auf die Stimmen von Tomi und Anneke ist genau richtig. Eingängig und mit Hitpotenzial, aber auch wirklich schön. Und Flöten von Chrigel Glanzmann (Eluveitie) gibt es auch.
„Pyres on the coast“ beschließt die reguläre Ausgabe des Albums (die Digi-Fassung hat noch zwei Bonustracks: „As mountains crumble“ – balladesk, getragen, mächtig: „Brother and sister“ – typisch Amorphis mit schön melancholischer Grundmelodie), ein getragener, düsterer Brecher, der mit schweren Riffs, virtuosem Keyboardspiel und abwechslungsreichem Gesang punkten kann – eindeutig Amorphis, aber auch irgendwie wieder nicht. Eine wunderbare Wundertüte, die auch exzellent wieder zum Anfang der Scheibe überleitet.

Queen of time zeigt, dass Amorphis mit ihrem dreizehnten Album ihren drölfzigsten Bandfrühling erleben, dass mit Jens Bogren wieder der beste Produzent gewählt wurde und die Öffnung des sowieso schon variablen Sounds hin zu Streichern, Chören und ähnlich punktgenau eingesetztem Bombast die richtige Entscheidung war. Das ganze Album strahlt eine überwältigende Dynamik aus (was sicher auch daran liegt, dass die Band sofort nach Tourende ins Studio ging), die orientalischen Einsprengsel (für die Chöre und den „Ofra-Haza-Gesang“ ist die Israelin Noa Gruman verantwortlich, die schon mit Orphaned Land gearbeitet hat) sind sicher nicht nur für OL-Fans ein echtes Schmankerl, und die Gästelistenriege ist vom Feinsten. Die Leistung der Stammmusiker ist natürlich über jeden Zweifel erhaben, und die Rückkehr von Originalbassist Olli-Pekka Laine – der sich dafür extra von seinem Job bei der finnischen Regierung beurlauben ließ – bringt noch mal frischen Wind ins Bandgefüge.
Queen of time muss man sich erarbeiten und dabei richtig klassisch mit dem CD-Booklet vor der Stereoanlage sitzen, am besten mit Kopfhörern, damit die Scheibe ihre volle Wirkung entfaltet. Dann wird man belohnt.

Anspieltipps: Daughter of hate, Message in the amber, Pyres on the coast

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Amorphis: Queen of time
Nuclear Blast, Vö.: 18.05.18
Länge: 58 Minuten
Kaufen: € 16,99 bei Nuclar Blast (Digipack)

Tracklist:
1. The bee
2. Message in the amber
3. Daughter of hate
4. The golden elk
5. Wrong direction
6. Heart of the giant
7. We accursed
8. Grain of sand
9. Amongst stars
10. Pyres on the coast

11. As mountains crumble
12. Brother and sister

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