Ich habe keine Angst

xotox-gesternxotox – das ist feinster Tanzflächenlärm, der auch gern mal massive Konzerthallenwände zum Erzittern bringt. Kenner wissen natürlich, dass Andreas Davids sich nicht nur auf schön brachiale Klangeruptionen beschränkt, sondern auch ein Meister der introvertierteren Töne ist. Darüber hinaus ist er noch zusammen mit Tony Young von Autoclav1.1 als Natura Est unterwegs (Dark Ambient) und ganz einfach als Andreas Davids (verschiedenste Elektronikfacetten). An Kreativität mangelt es also nicht, und man könnte noch viel über die musikalische Bandbreite schreiben. Heute soll es aber um xotox gehen, schließlich steht seit Mai 2020 mit Gestern ein neues Album in den Startlöchern – das erste bei Infacted Recordings! Endlich Nachschub also nach der sehr schönen EP Silent Shout vom Januar 2019, und der will intensiv genossen werden. Also, Kopfhörer aufgesetzt und los!

Gestern gibt es in zwei Fassungen – der normalen und einer erweiterten, der eine zweite CD mit Remixen beiliegt. Ich führe mir natürlich die erweiterte Fassung zu Gemüte, weshalb ich in dieser Rezension dann auch auf die Remixe eingehen werde. Die normale Ausgabe bietet aber mit vierzehn Titeln auch schon ordentlich neuen Stoff für die Ohren und den Tanzfuß.
Los geht’s mit „Sorgenkind“, einem geradezu lieblichen, beschwingten Einstieg, der mich manchmal ein wenig an Klangstabil denken lässt. Auch das typische Sprachsample klingt geradezu positiv – im Vergleich zu früheren Songs – und beschert mir jetzt schon einen veritablen Ohrwurm: „Ich liege im Bett, es ist Nacht, fast Mitternacht. Ich höre das Ticken des Weckers, lausche den Geräuschen der Straße. Ich habe keine Angst.“ Ein paar rhythmische Dissonanzen zeigen dann aber doch, dass wir uns auf einem xotox-Album befinden. Diese werden bei „Zeitgeist, Baby!“ noch verstärkt, auch wenn die ganz harte Tonkeule noch ausbleibt. Die hypnotisierenden Schleifen im Hintergrund ziehen einen sofort in den Bann, und der sehr entschiedene Rhythmus lässt mich wünschen, ich wäre jetzt auf einer entsprechenden Party und könnte mich dazu in Trance tanzen.
Sehr vertraut xotoxig wird es bei „Welt-Alarm“, denn hier ist er, der Lärm! Andreas schreit sich die Seele aus dem Leib – „Alarm!!“ -, es wummert, rumst, fiept und kracht, wie es soll. Feinster Rhythm’n’Noise zum Abgehen. „Haunted“ agiert mit dem sphärischen weiblichen Gesang am Anfang zunächst etwas zurückgenommener, um sich dann immer mehr zu einem Rhythmusmonster zu steigern. Eine hervorragende Überleitung zum brachialen „Ufo“, das nach einem passenden Sprachsample dann alle Lärmregister zieht. Dissonantes Schleifen und Quietschen, Hämmern, Beats – alles genau auf den Punkt gebracht (und trotzdem ein bisschen zu kurz). Der „Tagtraum im Regen“ schließt da perfekt an, wenn auch etwas schleppender und ganz bestimmt nicht so lieblich, wie man es bei dem Titel vielleicht erwartet hätte. Dieser Tagtraum wirkt eher hart, wütend – so ein langsamer, köchelnder Zorn –, abweisend. Aber wer sagt auch, dass Tagträume immer schön sein müssen. Und wenn man sich das nachfolgende „F*ck you very much“ anhört, passt alles zusammen. Auch hier entspricht die Musik nicht den eventuellen Erwartungen. Statt einer erbarmungslosen Lärmwand schallt hier eiskalt lächelnde Midtempoklangkunst in die Ohren. Ein hypnotischer, lässiger Rhythmus, bei dem man sich wirklich entspannt denken kann: „Ihr könnt mich alle mal.“
Ganz und gar nicht entspannt, sondern sehr knarzig und sperrig präsentiert sich „Standing on the top of a rusty mountain“, und hier passt meine Erwartung dann sogar mit dem Klangbild zusammen. Schwerer Midtemporhythmus gepaart mit ordentlich Frickelei – ja, so könnte ich mir einen rostigen Berg tatsächlich vorstellen. Wobei die Abflammgeräusche und Plingelemente aus „Zu tief“ auch hervorragend zu diesem Bild gepasst hätten. Doch sie gehören zum nächsten kleinen Kosmos auf Gestern, bei dem man sich ganz tief in der Scheibe befindet. So viel ist bis zur Halbzeit schon passiert, so viele Einzelheiten wollen erfasst und verarbeitet werden. Verschnaufpausen gibt es aber nicht, denn „Wir haben die Wirklichkeit zerstört“ hämmert sich mit dem trommelschleifenartigen Rhythmus sofort ins Gehirn und in die Füße. „Das ist der springende Punkt“, heißt es in dem Song, und ist damit auch einer der Höhepunkte des Albums.
„Das falsche Licht“ lullt einen erst mit sanften Hintergrundtönen ein, um einem dann die volle Noise-Breitseite zu verpassen, die sich immer weiter steigert. Jetzt hätte ich dann endgültig bitte danke gern eine Tanzfläche mit entsprechender Akustik. Aber „Die neue Normalität“ – ungewollt prophetisch? Oder schon der veränderten Realität geschuldet? – verbietet das ja leider noch, und wahrscheinlich auf sehr lange Sicht. Dabei wäre auch dieser Track hervorragend zum Tanzen geeignet, auch wenn hier wieder mehr in die Frickelkiste gegriffen wird, und man sich ein wenig vom Rhythm’n’Noise/Industrial löst. Den gibt es dafür wieder bei der „Horizontalverschiebung“, und das nicht zu knapp. Sehr schön!
„Keine Angst“ schließt den Kreis zum ersten Track „Sorgenkind“ und schallt sehr wuchtig, brachial und vor allem selbstbewusst aus den Lautsprechern. Angst ist hier wirklich keine zu hören. Wir leben zwar gerade in beängstigenden Zeiten, aber Musik wie dieser Track gibt definitiv Kraft und Zuversicht.

Auf der zweiten CD sind dann insgesamt vier Songs von der ersten CD in verschiedenen Remixen vertreten, wie ein bisher noch unbekannter Song plus einem Remix davon. Besonderes Augenmerk liegt auf „Ufo“, einem der markantesten und härtesten Titel von Gestern. Wie sehen nun andere Künstler das Material? Sehr unterschiedlich, und das macht diese zweite CD unglaublich spannend. ES23 machen zum Beispiel aus „Ufo“ eine fluffig-beschwingte Synthiehymne, der Wesenberg-Rework-Mix reduziert den Song fast bis zur Unkenntlichkeit und zelebriert sechs Minuten introvertiertes Gefrickel mit ganz eigenem Klangkosmos. MS Gentur drehen dagegen die Regler noch etwas weiter und reißen hier ganze Lärmwände ein. Doch auch technoidere Spielarten werden hier ausprobiert, so beim Probe– und beim Pete-Crane-Remix, die auch extrem vom ursprünglichen Song wegführen und etwas ganz Eigenes erschaffen. Der Laermpegel-Remix führt gar in Drum’n’Bass-Gefilde – hätte ich so nicht erwartet, macht aber richtig Spaß.
„Wir haben die Wirklichkeit zerstört“ gibt es in einer schön wummerigen Instrumentalfassung zu hören sowie im Sven Phalanx Destroyed Reality Remix, der … eine amtliche Technoparty feiert. Auch das ist eine gelungene Überraschung.
„Die neue Normalität“ hat sich Natura-Est-Kollege Tony Young vorgenommen und aus dem harschen Original eine versponnene Version gemacht, die sich einerseits etwas eingängiger, andererseits aber definitiv auch schräger präsentiert.
Bei der Stahlschlag-Version von „F*ck you very much“ bekommt man das musikalische Material für die glühendheiß wütenden Momente des Lebens, wenn man wirklich etwas – oder jemanden – kaputtschlagen möchte. Eine sehr schöne Ergänzung, und so ist man für alle Facetten der Wut bestens gerüstet.
Die „Zeitstation Bermuda“ ist nicht nur ein Hörspiel, sondern auch ein sehr hörenswerter, sehr klassischer xotox-Track mit Sprachsample und ordentlich Wumms, der auch gut auf die erste CD gepasst hätte. Der 480Billion-Remix nimmt das Tempo etwas raus und setzt voll und ganz auf dissonante Klangkunst – nicht ganz leicht verdaulich, vor allem das Ende, aber immer spannend.

Puh! Gestern samt Remix-CD ist eine intensive Reise durch das musikalische Universum von xotox, auf der Andreas alle Register seines Könnens und seiner Fantasie zieht. Insgesamt ist es etwas weniger lärmig ausgefallen als frühere Alben, es gibt mehr Raum für intimere Klangmomente, die für viel Abwechslung sorgen. Manche Songs hätte ich mir ein bisschen länger gewünscht, weil ich emotional genau dann richtig eingetaucht war, wenn schon der nächste Track begann, aber da das Album hervorragend aufgebaut ist, wird man eigentlich immer vom Sound weitergetragen und taucht dann eben in den nächsten Minikosmos ein. xotox ist immer noch unverkennbar xotox auf Gestern, aber trotzdem ist keine Stagnation oder Wiederholung festzustellen. Im Gegenteil. Ein Album, mit dem man nicht nur die Nachbarn erschrecken kann, sondern auf das man sich auch voll konzentrieren darf und bei dem man bei jedem Hördurchgang neue Elemente entdeckt. Auch wenn die Musik ohne Texte auskommt, bieten die Songtitel samt der jeweiligen musikalischen Umsetzung auch genug Potenzial zum Nachdenken und zur eigenen Interpretation. Ein sehr schickes Stück elektronische Klangkunst.

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Anspieltipp: „Sorgenkind“, „Ufo“, „Wir haben die Wirklichkeit zerstört“

xotox – Gestern
Infacted Recordings, 08.05.2020
Länge: 50 Minuten (CD1)
Kaufen: € 9,99 digital über die Bandcampseite von Infacted Recordings; für die CD das Label direkt anschreiben.

Trackliste:
1. Sorgenkind
2. Zeitgeist, Baby!
3. Welt-Alarm
4. Haunted
5. Ufo
6. Ein Tagtraum im Regen
7. F*ck you very much
8. Standing on the top of a rusty mountain
9. Zu tief
10. Wir haben die Wirklichkeit zerstört
11. Das falsche Licht
12. Die neue Normalität
13. Horizontalverschiebung
14. Keine Angst

1. Ufo
2. Ufo (ES23 Remix)
3. Ufo (Wesenberg Rework)
4. Ufo (Plan9-Remix by MS Gentur)
5. Ufo (Probe Remix)
6. Ufo (Pete Crane Remix)
7. Ufo (Laermpegel Remix)
8. Wir haben die Wirklichkeit zerstört (instrumental)
9. Die neue Normalität (Autoclav1.1 Remix)
10. Zeitstation Bermuda (Retro-Version)
11. Wir haben die Wirklichkeit zerstört (Sven Phalanx Destroyed Reality Remix)
12. F*ck you very much (Stahlschlag Remix)
13. Zeitstation Bermuda (480Billion Remix)

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