Tausendundein Krach

Anthology of persian experimental music ist ein Re-Release. Die Originalausgabe von 2016 erschien nur digital, die Neuausgabe ist auch als CD erhältlich und um vier Bonustracks ergänzt. „Experimental music“ bedeutet hier vorrangig Ambient, Drone, Noise, Soundscape. „Persian“, das heißt, aus dem Iran – aber schon mit diesem Wort allein hatten einige Plattformen solche Probleme, dass der ursprüngliche Titel damals geändert werden musste, um dem Eintrag auf der Blacklist zu entkommen. Und wieder oder immer noch sind die Zeiten so, wie sie sind, leider. Das Album ist auch, wie es ist, unter welchem Titel auch immer – zum Glück.

Genre-Insidern sind vermutlich nicht alle der vertretenen Projekte unbekannt, Alphaxone und Xerxes the Dark haben bereits auf dem amerikanischen Label Cryo Chamber veröffentlicht (am 14. Januar ist dort auch das neue Alphaxone-Album Dystopian Gate erschienen). Für mich dagegen heißt es einfach Ohren auf und los.

Und schon der Opener „Leaving the planet“ von Tehransmission ist und bleibt ein erstes Lieblingsstück: Radiowellen auf dem Weg aus der Atmosphäre, Bruchstücke von Musik, Stimmen, Statik, Bewegung und eine seltsame Ruhe dahinter. Hier klingt auch die Tradition an, in der Land und Musiker stehen. Aber: Wer musikalisch von einem zeitlichen oder geographischen „weit weg“ angehaucht werden möchte, sollte woanders weitersuchen. Es gibt auf dieser Compilation immer wieder mehr oder weniger gebrochene Spiegelungen der jahrtausendealten musikalischen Geschichte des Landes, aber das klingt nach allem anderem als nach einem Rückgriff auf etwas Altes, Vergangenes oder „Ursprüngliches“. Im Gegenteil, auf mich wirken die meisten der Tracks extrem nah und unmittelbar, man ist mittendrin in der Reflexion der inneren und äußeren Noise- und Geräuschkulisse, und das klingt mal so und mal so und manchmal auch nicht anders als das gleiche Genre anderswo auf der Welt, warum auch. Umchungas „Turbulence I“, mit seinen langsam sich steigernden Flächen und einem leicht dubbigen Puls, erinnert mich denn auch stark an einige Abende beim hiesigen Frameless.
Die Compilation ist mit ihren 16 Tracks nicht nur umfangreich, sondern auch extrem vielseitig, von Track zu Track und auch im einzelnen Stück. Daher der Hinweis an Freunde des Krachs: Bei „After the quake“ von Idlefon nicht vom gefälligen Anfang abschrecken lassen, das wird noch (laut)! Mit Bicolors „Them crown“ folgt schon ein weiterer Anspieltipp, dunkel und dicht wie Melasse, unbedingt laut hören, das darf und soll das ganze Zimmer ausfüllen. Nyctalllz „Opscurus“ steht dem in nichts nach, es macht seinem Titel alle Ehre, eine Anmutung von Frachthafen bei Nacht, und ich glaube wirklich nicht, dass ich alles wissen will, was dort passiert. (Was vielleicht auch die Frage nach einer möglichen gesellschaftlichen oder politischen Aussage dieser Art Musik, dieses oder jenes Tracks aufwirft. Ich fühle mich in diesem Zusammenhang leider absolut unfähig, dazu irgendetwas zu sagen, ich höre nur zu mit meinen ahnunglosen Ohren.)
NUMs „Sound of guardians“ setzt den denkbar stärksten Kontrast zum Vorgängertrack, alles geht hier nach oben in singende und sirrende Sphären, der Track leuchtet fast im Dunkeln – kein heimeliges Leuchten allerdings, und kein unbedrohliches Summen. „R“ von idft, eine düstere, ungastliche Soundscape, ist noch einmal ganz anders; aber der „anderste“ Track des Albums ist wohl „Lajevard excerpt 2“ von Spectro Duo, ein erratisches Stück mit präpariertem Flügel, das einen auf ungeklärte Art in seinen fragilen Bann schlägt.
Bei Xerxes The Darks „Xtraterrestrial“ kann ich mich ganz zuhause fühlen, wüsste ich es nicht besser, würde ich mich auf der ruhigen Seite von Hands oder bei Ant-Zen glauben. Es folgt der Ohrwurm der Sammlung, „Hemelvaart“ von Ostanes: repetitive Gitarren-Melodielinien und zurückgenommenes Elektronikgefrickel über traditionell geprägter Percussion, schön! Mit„Intuition“ von Alphaxone geht es dann ruhig, flächig und ein bisschen breakbeatig schon dem ursprünglichen Ende der Sammlung entgegen, aber, zum Glück, bei der Neuauflage sind wir noch nicht so weit.
Die vier Bonustracks sind alles andere als Beiwerk, für mich ist dieser neue Abschnitt sogar einer der stärksten auf dem ohnehin sehr starken und sehr überlegt aufgebauten Sampler, der völlig verschiedene Stile in einem großen Bogen verbindet. Und S.S.M.P.s „Engines on“ als der ursprünglich letzte Track des Albums hätte mich wohl etwas unglücklich in die Welt entlassen, denn wie der Titel schon sagt: Das ist klassischer Space-Night-Soundtrack zu startenden Raketen und Leuten, die über der Erdkugel im Nichts balancierend Sonnensegel reparieren, Elektronische Musik mit großem E. Mir ist das alles etwas zu dick aufgetragen und ein bisschen zu konventionell. Umso glücklicher bin ich, dass das jetzt anschließende „Shushtari“ von Ali Latif Shushtari sich noch einmal jede Menge Platz im Sound und Zeit für die Erzählung lässt, die mit verfremdet akustischen Klängen beginnt und wer weiß wo endet. Das wesentlich kürzere „Clouds“ (Qwerteest) mit seiner orchestralen Anmutung schließt so perfekt an, dass man es für eine Wende im Track oder jedenfalls eine von vornherein so geplante Fortsetzung der Geschichte halten könnte. Reza Solatipours „Darck City“ fällt noch einmal sehr düster aus, es droned und echolotet 40.000 Meilen unter allem, mindestens – großartig. Und der neue selbstbetitelte Abschlusstrack von Varkâna, gebrochen repetitiv auf einer hypnotischen Trommel und einer treibend-leiernden Synthline aufgebaut, die auch einem Lakaien-Song gut anstünde, ist für mich noch einmal ein großes Highlight und damit ein an gemessener Schlusspunkt.

Erschienen ist die Anthologie bei Unexplained Sounds Group (Untertitel: Global network of aural disorientation). Hinter diesem Namen steht Raffaele Pezzella, gelernter Soundtechniker und unter dem Alias Sonologyst auch selbst Musiker. Er begeisterte sich schon berufshalber für ungewöhnliche Klänge und experimentelle Musik und fing schnell an, mit Freunden und Bekannten weltweit besondere Fundstücke auszutauschen. 2014 hob er sein eigenes Label aus der Taufe, gab ihm den besten Namen der Welt und teilt seitdem seine Entdeckungen im Bereich experimentelle und elektroakustische Musik, Noise und Ambient mit allen, die Interesse haben. Lag der Fokus ganz am Anfang auf Italien und kurz darauf schon auf ganz Europa, versammelt er mittlerweile zeitgenössische und Underground-Musik von mehreren Kontinenten unter einem Dach. Mal als Jahresrückblick oder Übersicht über ein Genre und/oder Land gehalten, mal auf eine bestimmte Instrumentenart (etwa analoge Synthesizer oder elektroakustische Instrumente ) oder ein bestimmtes Thema fokusiert, zieht sich das Prinzip von fortlaufenden Reihen und regelmäßigen Reports aus den weniger bekannten Ecken des musikalischen Universums durch einen extrem spannenden Katalog von mittlerweile über 50 Releases. Eine Goldader für alle, die Noise, Experimental und Ambient mögen und gern über den Tellerrand schauen: Keine „Weltmusik“, kein „Tribal“, sondern ein Spiegel dessen, dass überall auf der Welt genau jetzt Menschen elektronische Instrumente bauen und spielen, Sounds sammeln und Musik mit dem machen, was sie um sich herum und in sich so finden. Das Ergebnis ist wirklich beeindruckend. Weltkulturerbe von morgen.
Und um irgendwo anzufangen: Ich denke, es ist ein sehr guter Zeitpunkt, Musik aus dem Iran zu hören, ein paar Menschen und das, was sie in einem Alltag, den es auch gibt, hören, fühlen und spielen.

Anspieltipp: Es wäre schneller aufgezählt, was sich nicht ganz so zum Einstieg empfiehlt, aber als Eckpunkte: Tehransmission „Leaving the planet“; Bicolor „Them crown“; Ostanes „Hemelvaart“; Reza Solatipour „Darck City“; Varkâna „Varkâna“.

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Various – Anthology of persian experimental music
Unexplained Sounds Group, 30.11.2020
Download ab 8 €, CD ab 13 € (derzeit ausverkauft) bei Bandcamp

https://unexplainedsoundsgroup.bandcamp.com/
https://www.facebook.com/unexplainedsoundsgroup
mixlr.com/unexplained-sounds/

Tracklist:
01. Tehransmission – Leaving the planet
02. Umchunga – Turbulence I
03. Idlefon – After thequake
04. Bicolor – Them crown
05. Nyctalllz – Opscurus
06. NUM – Sound of guardians
07. idft – R
08. Spectro Duo – Lajevard excerpt 2
09. Xerxes The Dark – Xtraterrestrial
10. Ostanes – Hemelvaart
11. Alphaxone – Intuition
12. S.S.M.P. – Engines on
13. AliLatif Shushtari – Shushtari (digital bonus track)
14. Qwerteest – Clouds (digital bonus track)
15. RezaSolatipour – Darck city (digital bonus track)
16. Varkâna – Varkâna (digital bonus track)

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