Ganz großes Kino

©Tapete Records

Das Cabinet des Dr. Caligari vom Regisseur Robert Wiene aus dem Jahr 1920 ist nicht nur einer der großen Stummfilm-Klassiker, sondern gleichzeitig auch einer der ersten Horrorfilme und ein Meisterwerk des Expressionismus. Die Liste der Künstler ist lang, die dieser Film beeinflußt hat, unter anderem Maurice Ravel, David Bowie, Bauhaus und Tim Burton. Seit zwanzig Jahren versucht auch Karl Bartos (Ex-Kraftwerk) den Film zu ergründen. Die Originalmusik ist leider verschollen und so wagte er das Experiment, den experimentellen Film neu zu vertonen.

Orgelklänge im Prolog schüren die Spannung, bevor mit „Scary memories“ der eigentliche Film beginnt, und hier haben Francis und Jane ihren ersten Auftritt. Die jugendliche Freude des Lebens von Alan und Francis mittels fast schon fanfarenmäßigen Trompeten transportiert. Doch wenn Dr. Caligari auftritt, wechselt die Stimmung ins Dramatische. Die Jahrmarktszene klingt mit Drehorgel typisch nostalgisch und ganz nach damaligen Zeiten. Stimmfetzen untermalen das Ganze. In Caligaris Zelt bedient sich Bartos jedoch auch elektronischer Elemente, um die Bedeutung zu unterstreichen. Das Erwachen von Cesare könnte dramatischer nicht sein, doch fast schon zärtlich beschreibt Bartos die ersten Schritte des feingliedrigen Somnambulen. Francis kann seinen Freund Alan nicht zurückhalten, nach seinem Todestag zu fragen, dessen Schicksal mit der Antwort besiegelt ist.
Schließlich wird auch Jane liebreizend vorgestellt, der mensch sich mit ihrer ausdrucksstarken Schminke nur schwer entziehen kann. Die Todesnachricht wird sehr schwermütig überbracht. Auf der Suche nach ihrem Vater begegnet Jane schließlich Dr. Caligari, der ihr daraufhin den schlafenden Cesare zeigt, eine dramatisch untermalte Schlüsselszene. Angsterfüllt läuft sie davon, doch in der Nacht schleicht Cesare sich zu ihr und entführt Jane. Die Tat wird entdeckt, und er muss ohne sie fliehen, um zu entkommen. Mit großem Orchestereinsatz unterstreicht Bartos die Szenen.
Caligaris Machenschaften werden in der Folge aufgedeckt, und Francis folgt ihm in die Nervenheilanstalt, wo dieser schließlich festgenommen wird. Die Intensität der Musik steigert sich unter anderem dank dem Streicherensemble stetig bis zum großen Finale und verdeutlicht den Wahnsinn von Caligari, der sich als Direktor der Nervenheilanstalt entpuppt. Doch ist der Film in eine Rahmenhandlung eingebunden, die als Reprise das musikalische Thema vom Anfang wieder aufnimmt. Paukenschläge leiten die schreckliche Erkenntnis ein. Mit Orgelklängen und Orchestermusik endet schließlich der Film.

Fazit: Zum Vergleich habe ich mir zuvor noch zwei alternative Vertonungen angesehen, und ich muss ehrlich sagen, was Karl Bartos da mit The Cabinet of  Dr. Caligari komponiert hat, ist ganz großes Kino und gefällt mir tatsächlich am Besten. Er versteht es meisterhaft Schlüsselszenen dramatisch zu inszenieren und auch sonst die (von mir nur grob zusammengefassten) Handlungsstränge feinfühlig zu untermalen und die expressionistische Seele des Films einzufangen.
Ganz offensichtlich hat Karl Bartos sich intensiv mit Stummfilmvertonung generell auseinandergesetzt, denn er setzt nicht auf eine Kraftwerk-mäßige technoide Umsetzung, mit der er dem Werk sicherlich seinen deutlichen persönlichen Stempel hätte aufdrücken können. Was gleichzeitig ein bisschen schade ist, denn das hätte durchaus auch sehr interessant sein können. Aber stattdessen stellt er sich nicht über das Werk und setzt das um, das ganz im Sinne des Stummfilms ist und dessen Charakter unterstreicht. Klassische Orchesterelemente von Bach oder Mozart treffen auf Drehorgel und auch auf dissonante und elektronisch verfremdete Elemente und Geräusche. Der Soundtrack, der in Zusammenarbeit mit Toningenieur Mathias Black entstanden ist, ist schön und verspielt, aber auch surreal, dramatisch, verstörend und beunruhigend, ganz wie der Film selbst.
Ich freue mich definitiv auf die Aufführung im großen Rahmen am 2. November 2024 im Münchener Prinzregententheater. In der Wartezeit funktioniert es übrigens auch, sich einfach nur im Halbdunkel niederzulassen und zur Musik einen ganz eigenen Film vor dem inneren Auge abspulen zu lassen.

Karl Bartos: The Cabinet of Dr. Caligari
Label Bureau B, Vö. 09.02.2024
CD 17,99 €, 2-LP 34,99 € erhältlich über Tapete Records

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Tracklist:
01 Prologue
02 Scary memories
03 Atonal floating
04 Full of life
05 In the Town Hall
06 At the funfair
07 A mysterious crime
08 At the funfair 2
09 The Cabinet of Dr. Caligari
10 Jane’s Theme
11 March Grotesque 2
12 Jane’s Theme 2
13 Shadows
14 Tragic message
15 Suspicion
16 Tragic message 2
17 The plan
18 A dark figure
19 Caligari’s Theme
20 Arrest of the suspect
21 Caligari’s Theme 2
22 Worried Jane
23 Interrogation
24 Jane’s fear
25 Francis’s observation
26 Cesare’s attack and escape
27 Safe and sound
28 Francis at a loss
29 Caligari’s deception
30 Lunatic asylum
31 In search of the truth
32 Out in the field
33 The director rants and rages
34 Scary Memories 2
35 Who’s mad here?
36 Francis rants and rages
37 Epilogue

 

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