Höllenfahrt

Faust – das ist DER Monolith deutscher Dichtkunst, ein zweigeteiltes Textgebirge aus insgesamt gut 12.000 Versen, mit dem fast jeder im Laufe seines Lebens mal konfrontiert wird und das schon viele Regisseure von verschiedensten Seiten zu erklimmen versucht haben. Im Münchner Residenztheater hat sich Martin Kušej dieser Sache angenommen, doch hat er aus dem Gebirge zunächst mal eher einen Steinbruch gemacht: Zusammen mit der Dramaturgin Angela Obst und dem Autor Albert Ostermaier hat er für seinen Faust eine ganz eigene Textfassung erarbeitet, in der Passagen aus Teil I und II miteinander vermischt, mitunter in andere Reihenfolge gebracht und auf andere Personen verteilt sind. Wer sich auf das klassische Reclam-Heftchen verlässt, wird dem Ganzen eher desorientiert gegenüberstehen, weswegen das Residenztheater auf seiner Website auch einen pdf-Download des gespielten Textes anbietet.

So beginnt dieser Abend mit einer Szene, die ursprünglich am Ende des zweiten Teils steht – und mit einem veritablen Knalleffekt. Faust, inzwischen zum Großgrundbesitzer avanciert, vertreibt das seinen Plänen im Wege stehende alte Ehepaar Philemon und Baucis aus dessen Haus; der kurze Auftritt endet mit einer Explosion, die man in dieser Intensität eher auf einem Rammstein-Konzert erwarten würde und deren Druck- und Hitzewelle bis in die Parkettreihen hinein spürbar ist. Auch später wird Kušej es noch des Öfteren krachen und blitzen lassen, weswegen auf der Resi-Homepage sogar ausdrücklich darauf hingewiesen wird, „dass in dieser Vorstellung extreme Lautstärken (Schüsse, Explosionen) und Stroboskoplicht eingesetzt werden.“ Hier setzt der Regisseur jedenfalls schon gleich am Anfang ein deutliches Signal, dass an diesem Abend kein hochglanzpoliertes Klassiker-Hochamt zelebriert werden wird; vielmehr sieht sich der Zuschauer in den folgenden drei Stunden mit einer apokalyptischen Fahrt in die dunkelsten Abgründe des menschlichen Daseins konfrontiert. Die Hölle, das sind hier nicht die anderen, wie es bei Sartre heißt, das sind wir selbst.

Aleksandar Denić hat dafür ein enorm eindrucksvolles, komplexes Bühnenbild geschaffen, einen nachtschwarzen, sich immer wieder drehenden mehrstöckigen Würfel (gekrönt von einem Kran, an dem in der Szene des Flugs zur Walpurgisnacht ein Pferd im Kreis herum geschwungen wird), der an Industrieruinen erinnert und unterschiedlichste Schauplätze in sich vereint: Fausts Studierstube, Hexenküche, Disco-Area, Ghetto-Hinterhof, Straßenstrich und Drogenslum – eine spärlich und kühl beleuchtete Welt des Untergangs, untermalt von Bert Wredes düster-kaltem Elektro-Soundtrack.

Faust, gespielt von Werner Wölbern, ist in Kušejs Inszenierung kein intellektueller Grübler, der wissen möchte, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, sondern ein gut situierter Wohlstandsbürger und Hedonist, der eigentlich schon alles erreicht hat und nur auf der Suche nach dem nächsten Kick, dem nächsten Lustgewinn ist. Sein Selbstmordversuch mit Schlaftabletten scheint denn auch eher ein Akt des Überdrusses denn der tief empfundenen Verzweiflung zu sein. Sein Schüler Wagner (nerdig und weltfremd: Jörg Lichtenstein) rettet ihn und nimmt ihn mit auf einen Osterspaziergang, von dessen Idylle hier nichts mehr übrig geblieben ist, sondern der zunächst in sexuelle Enthemmung und schließlich in einen Gewaltexzess umschlägt.

Doch braucht eine von Grund auf verrottete Gesellschaft noch einen Teufel? „Alles was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht“? Ein überflüssig erscheinendes Motto, wenn doch schon alles am Boden ist. Sünde, Zerstörung und das Böse, Mephistos „eigentliches Element“, sind bereits allzeit und überall präsent, und auch Gott als sein Gegenspieler und Wettpartner um die Seele Fausts existiert nicht mehr. Dementsprechend ist dieser Mephisto, dargestellt von der wieder einmal grandiosen Bibiana Beglau, auch weniger ein souveräner Verführer als vielmehr eine tragische Persönlichkeit (die Wunden der ausgerissenen Flügel trägt dieser gefallene Engel noch auf dem Rücken), einerseits deprimiert und an sich selbst verzweifelnd, andererseits blutrünstig und skrupellos. Beglau zeigt hier alle Facetten einer gebrochenen Figur, die ihren Seelenschmerz durch Zynismus und Nihilismus kompensiert. In einer pervertierten Welt gilt es immer noch eins draufzusetzen, und sei es, dass Mephisto ein Kind zum Selbstmordattentäter macht, indem er ihm einen Sprengstoffgürtel umlegt.

Wie ein Fremdkörper in dieser von Dealern und Junkies, Huren, mafiösen Gewalttätern und allerlei sonstigem verkommenen Personal bevölkerten Welt wirkt da Andrea Wenzls Margarete, deren klinisch weiße Kammer schon rein optisch einen heftigen Kontrast zur sonstigen Endzeit-Atmosphäre des Bühnenbildes darstellt. Ihre Harmlosigkeit und Unschuld sind schon beinahe karikaturhaft überzeichnet wie im anderen Extrem Marthe Schwerdtlein (Hanna Scheibe), die bei Kušej nicht nur eine verschlagene Kupplerin, sondern schlicht hemmungslos sexbesessen ist und nur zu gerne Mephisto zwischen ihre Beine lässt. Die berühmte Frage, wie Faust es mit der Religion halte und wie ernst er es denn eigentlich mit ihr meine, stellt dieses naive Gretchen erst, als beide postkoital nackt beieinander liegen. Umso heftiger gestaltet sich ihr Absturz, wenn sie angesichts des Mordes an ihrer Mutter allmählich wahnsinnig wird und schließlich mit blutigem Unterleib in ihrer Kammer stirbt, nachdem sie ihre Schwangerschaft ganz offensichtlich selbst mit einem Messer beendet hat.

Martin Kušej hat einen Faust wie von David Fincher auf die Bühne gebracht (passenderweise mutiert denn auch Auerbachs Keller zum Fight Club), ein finsteres, brutales und kompromissloses Endspiel. Manche der Zitate und Anleihen aus der Moderne mögen klischeehaft und krawallig wirken, aber bei genauerem Hinsehen sind all diese Setzungen durchaus punktgenau, stimmig und ausgefeilt. Wenn Faust koksend und saufend eine Technoparty besucht, ist das kein platt provozierendes Element, sondern ein geeignetes Stilmittel, um die vollkommene Zügellosigkeit seines Charakters in unsere aktuelle Welt zu transportieren.

„Es ist vorbei“, so sind Fausts letzte Worte an diesem Abend, wohingegen Mephisto nur das dauerhaft „Ewig-Leere“ vor sich sieht. Leeren Kopfes entlässt diese verstörende, packende und sehr heutige Blickwinkel eröffnende Inszenierung aber sicher niemanden.

Nachtrag: Am 10. November 2014 hat in Wien die Faust-Inszenierung am Münchner Residenztheater den bedeutenden österreichischen Theaterpreis Nestroy für die beste deutschsprachige Aufführung gewonnen.

Residenztheater
Textfassung

(Danke auch an Co-Autor Elmar für zusätzlichen kreativen Ideen-Input!)

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