Eine neue Ebene der Graphic (Gothic) Novel

Ein namenloser Ich-Erzähler erhält einen Brief von seinem Kindheitsfreund Roderick Usher, der ihn um einen Besuch bittet. Doch bereits auf dem Weg zum Anwesen des alten Clans von Usher ergreift ihn ein Gefühl der Beklemmung und Betrübnis. Endlich angekommen, findet er seinen alten Freund in ähnlich schlechter Verfassung, wie das Gebäude um ihn herum; eine Erkrankung der Nerven, verursacht oder verschlimmert von einer ebenso mysteriösen Krankheit von Rodericks Schwester, Madeleine. Die letzten Mitglieder der Familie Usher siechen unter den düsteren, bröckelnden Hallen ihres Hauses dahin. Schließlich stirbt Madeleine und wird im Keller aufgebahrt, und Rodericks Zustand verschlechtert sich weiter. Er scheint selbst Angst vor dem Haus seiner Vorväter zu haben, sieht in der düsteren umgebenden Landschaft und in den Mauern selbst eine Beseeltheit, als wollte die Landschaft selbst die Familie Usher verschlucken …

Für diejenigen, denen Der Untergang des Hauses Usher von Edgar Allen Poe nicht geläufig ist, lasse ich das Ende offen und konzentriere mich hier auf die Umsetzung als Graphic Novel selbst, und nicht auf die originale Kurzgeschichte.

Künstler Ciponte erzählt Poes Klassiker in sehr groben Momentaufnahmen, konzentriert sich vor allem auf die Darstellung der düsteren Atmosphäre und des Gefühls der Beklemmung. Beim ersten Lesen fühlt sich das etwas unzusammenhängend an, doch wenn man sich darauf einlässt, erzeugt es ein besonders intensives Leseempfinden, das den Originaltext imitiert.

In einem Stil, der mir so noch nie begegnet ist, mischt Ciponte seine eigenen Zeichnungen mit KI-generierten Bildern und nutzt dabei ganz bewusst und sehr geschickt die mittlerweile allseits bekannten „Probleme“ von Künstlicher Intelligenz – schwammige, undefinierte Züge, elektronische Relikte, eine Art „Uncanny Valley“- Effekt, bei dem Menschen und Gegenstände auf eine undefinierbare Art und Weise einfach falsch aussehen, beziehungsweise sich tief drin falsch anfühlen. Ciponte nutzt diesen Effekt meisterlich und erzielt eine ganz neue Ebene des subtilen Horrors, von dem Poes Geschichte lebt.

Wenn auch einige Elemente der Geschichte aus der Anspielung heraus in die bildliche Darstellung geholt werden, so wird die Essenz des Untergangs des Hauses Usher durch die Umsetzung als Graphic Novel fantastisch eingefangen. Es ist geradezu, als hätte Poe selbst sie erdacht, so nahtlos fügt sich dieses Genre an das Original an. Dass der Erzähler den Portraits von Edgar Allen Poe nachempfunden ist, ist da nur noch das Tüpfelchen auf dem i.

Bei vielen genreübergreifenden Adaptionen frage ich mich, ob die Adaption dem Original irgendetwas hinzufügt, denn sehr oft ist das leider nicht der Fall, doch diese Graphic Novel ist eine der positiven Ausnahmen. Sie ist der Essenz des Originals absolut treu, aber hebt durch ihren innovativen Stil die Geschichte auf eine andere Ebene.

Sowohl für Kenner von Poe als auch für Einsteiger dürfte diese Graphic Novel (oder vielleicht eher Graphic Novella) ein großer Genuss sein.

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Andrea Grosso Ciponte, Dacia Palmerino: Der Untergang des Hauses Usher
Nach Edgar Allen Poe, gezeichnet von Andrea Grosso Ciponte, adaptiert von Dacia Palmerino
Übersetzt von Myriam Alfano
Edition Faust Verlag, Vö. 2023
60 Seiten
Hardcover, 24,00 EUR

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  1. […] “Diese Graphic Novel ist eine der positiven Ausnahmen. Sie ist der Essenz des Originals absolut treu, aber hebt durch ihren innovativen Stil die Geschichte auf eine andere Ebene. Sowohl für Kenner von Poe als auch für Einsteiger dürfte diese Graphic Novel (oder vielleicht eher Graphic Novella) ein großer Genuss sein.” – Judith Homann bei Schwarzes Bayern […]

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