Hypnotisch und mitreißend

Electro vom Feinsten – das steht am heutigen Abend in der Roten Sonne auf dem Programm. Falsch: Dort stehen immer elektronische Klänge vom Feinsten auf dem Programm, meistens allerdings eher aus dem Techno-Kosmos. Zwischendurch spielen aber auch immer wieder schwarz-elektronische Bands in dem Kellerclub, zuletzt kurz vor Weihnachten Rue Oberkampf und Camilla Sparksss. Heute gibt es das kanadisch-australische Package aus Kontravoid und Zanias zu hören, auf das ich mich schon lange freue. Veranstaltet wird der Abend von Grey Scale, vor und nach den Konzerten sorgen Tiefenstadt b2b Neon Force am DJ-Pult für beste Klänge. Das kann ja alles nur gut werden. Nichts wie hin also!
DSC_8180Mit ein bisschen Verzögerung geht es los, doch dafür startet Cameron Findlay aka Kontravoid auch vor einem gut gefüllten Raum. Sehen dürfte er zwar wegen der charakteristischen weißen Maske und dem zuckenden Stroboskop wenig von den Zuschauer*innen, aber sie sind da und willig, vom ersten Moment an das Tanzbein zu schwingen. Kontravoids Musik eignet sich perfekt dafür, eine düstere Mischung aus harten Beats und kaltem Wave, verzerrtem Gesang und industrieller Atmosphäre, zu der Cameron wild über die Bühne springt. Die weiße Maske, die das gesamte Gesicht bedeckt, leuchtet immer wieder in den Stroboskopblitzen und den Nebelschwaden auf, ansonsten ist die Bühne in Dunkelheit getaucht. Irgendwie schafft Cameron es aber trotzdem, gelegentlich etwas an seinen Geräten einzustellen und den Songs noch mehr Druck zu verleihen. Setlist gibt’s keine, die einzelnen Songs unterscheiden sich in der Live-Version auch nicht so großartig voneinander (auf Konserve schon, nachzuhören hier), aber das macht nichts, denn so entsteht ein einziger großer Flow, zu dem man am besten die Augen schließt und tanzt. Das aktuelle Album Faceless (Fleisch Records, 2021) – und da besonders der Titeltrack – wird natürlich berücksichtigt, ebenso wie die früheren Veröffentlichungen von Kontravoid. Nach einer guten Stunde sind alle warmgetanzt, als Cameron – den letzten Song hat er ohne Maske performt – schließlich unter großem Applaus von der Bühne geht.

DSC_8356Alison Lewis aka Zanias war das letzte Mal im September 2020 in München, beim legendären Abend im Münchner Olympiastadion, zusammen mit Rue Oberkampf. In der Zwischenzeit hat sich viel getan, mit Unearthed ist ihr zweites Full-length-Album erschienen, sie war mit Linea Aspera unterwegs, hatte aus persönlichen Gründen zwischendurch überlegt, die Musik zugunsten eines Studiums ruhen zu lassen, wollte aus Berlin wegziehen (nicht zuletzt nach einer schrecklichen Erfahrung im Berghain) – und macht jetzt doch weiter Musik, sowohl solo als auch mit ihrem Label Fleisch Records. Zum Glück für uns!! Die vielen Emotionen und Erfahrungen der letzten Jahre verarbeitet sie auf ihrer bald erscheinenden neuen Platte Chrysalis, auf der sie wieder auf ihre ganz eigene Art gnadenlos ehrliche Texte und ebenso schöne wie herzzerreißende Musik verbindet. Eine erste Singleauskopplung gibt es mit „Simulation“ schon vorab zu hören, und wenn sie der Maßstab für das neue Album ist, dann wird es wieder etwas ganz Besonderes.
Wie schon 2020 wird Alison auch heute wieder von der ebenfalls in Berlin lebenden, ebenfalls aus Australien stammenden Laura Bailey begleitet, die als Neu-Romancer auch eigene Musik macht (das sehr coole Italo-Disko-Debüt Neue Romantika ist soeben bei Fleisch Records erschienen). Zu vielen Songs des Sets steuert Laura neben Keyboard auch Live-Bass und massig Coolness bei, während Alison sich auf den Gesang, das E-Drumpad und andere Geräte konzentrieren kann. Nach „Unseen“ vom Album Unearthed, der aktuellen Single „Simulation“ (in der sie ihre Zeit in Berlin thematisiert) und dem da noch neuen (mittlerweile erschienenen) Song „Metrics“ (allen gewidmet, die sich auf dieser Welt ganz, ganz falsch fühlen – und das können sicher viele unterschreiben) geht Alison immer mehr aus sich heraus, nutzt die ganze Bühne, springt auch mal – bei „Limerence“ – auf einen Vorsprung an der Seitenwand und kommt oft zum Bühnenrand vor. Das Set ist heute etwas technoider und mit Extrawums gestaltet als zum Beispiel im Olympiastadion, wunderschön tanzbar, doch Alisons extrem wandelbare und mächtige Stimme bekommt trotzdem genügend Raum. Augen schließen und sich tanzend der Musik hingeben empfiehlt sich (machen auch viele), doch man sollte sich auch trotz Schummerbeleuchtung nicht entgehen lassen, mit welcher Brillanz Alison und Laura dieses superknackige, mitreißende Set auf die winzige Bühne bringen. Der Jubel ist wie zu erwarten groß, und Alison lächelt glücklich zwischen den Songs. Nach „Unraveled“ verlassen Alison und Laura kurz die Bühne, doch natürlich gibt es noch eine Zugabe, bei der vor allem „Follow the body“ für große Begeisterung im Publikum sorgt.
Danach ist endgültig Schluss, und wieder mal war es ein Erlebnis, Zanias live zu sehen. Ob im Feierwerk beim Katzenclub, auf der Freiluftbühne im Olympiastadion oder jetzt in dem superintimen Rahmen in der Roten Sonne – wer sich auf die Musik und die Emotionen einlassen kann, geht bereichert und mit glücklichem Herzen nach Hause. Vielen Dank auch an Kontravoid für den tadellosen Auftritt!

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