News from Brexit-Island

IMG_0028_2Ganze 44 Jahre haben New Model Army nun schon auf dem Buckel und sind noch immer Unbroken. So heißt das neue und sechzehnte Studioalbum, das die Kult-Band um Sänger und Gitarrist Justin Sullivan im Januar veröffentlicht hat, und das sie auf einer ausgedehnten Europa-Tour live präsentiert (die die Band sogar bis nach Südamerika führt, wo NMA ebenfalls eine große Fangemeinde hat). München ist dieses Mal leider der einzige Termin in Bayern. Dafür ist die Donkeyhonk Company wieder im Vorprogramm mit dabei, die sich schon letztes Mal bewährt hatte (Review zum Konzert) und daher auch sogar das Weihnachtskonzert von NMA in Köln eröffnen durfte.
Meine für ihre tollen Fotos geschätzte Kollegin torshammare fällt leider ausgerechnet heute erkältungsbedingt aus, also berichte ich mit einer kleinen alten Kamera in der Hosentasche direkt aus dem Pit.

Bei der Parkplatzsuche habe ich heute Glück und bin fünfzehn Minuten zu früh für den Einlass, trotzdem ist die Schlange schon dreißig Meter lang. Schließlich haben wir es geschafft und decken uns (mal wieder) am Merchandise ein. Noch schnell alles an der Garderobe abgeben, und der Abend kann starten. An der Treppe vor der Bühne treffe ich erfreulicherweise eine Bekannte, und gemeinsam warten ist bekanntlich weniger langweilig.
IMG_0016Pünktlich um acht betreten Donkeyhonk Company die Bühne des mittlerweile gut gefüllten Werks, bestehend aus Wig am Schlagzeug, Pedl mit großem Kontrabass und Sänger Lametto, der wahlweise Gitarre und Banjo spielt. Die drei beginnen schwungvoll mit einer rock’n’rolligen Nummer, die eine gute Energie verbreitet und viele im Publikum direkt zum Kopfwippen verleitet. Es ist spürbar, wie die Hintergrundgespräche nach und nach verstummen, und der Applaus wird nach jedem Song lauter. Sie spielen eine wirklich gelungene Mischung aus Rock ’n‘ Roll, Country und Folk Rock, und das zum Teil auch auf Bayrisch, was originell ist. Mit ihrem Stumpin‘ Outlaw Blues, wie sie ihn selbst bezeichnen, kommen sie beim Publikum gut an, und mit kleinen Ansagen lockern sie das Ganze auf. Sie seien noch immer eine Low Budget Band, erklärt Lametto und präsentiert stolz die Nebelmaschine. Dafür pafft Pedl an einer E-Zigarette und bläst den Rauch um das Schlagzeug von Wig herum. Das sorgt natürlich für ordentlich Gelächter und Gejohle. Schließlich wird der letzte Song angekündigt, bei dem Pedl sogar mit seinem Bass jongliert, aber einer geht dann doch noch. Während des nun wirklich letzten Songs von Donkeyhonk Company schiebe ich mich in die noch lockeren Reihen vor die Bühne. Mit gebührendem Applaus wird die Band nach 45 Minuten verabschiedet. Gefühlte dreißig Sekunden später wird es eng und kuschelig, und ich höre um mich herum nur noch Englisch. Ich stecke plötzlich in einem Pulk aus mitreisenden Engländer*innen, und es sind viele bekannte Gesichter dabei. Das wird heute also mal wieder hart und anstrengend.
IMG_0047Die Umbaupause zieht sich, doch um 21:16 Uhr ist es endlich soweit, New Model Army betreten nach einem kurzen Intro ordentlich bejubelt die Bühne. Allen voran Michael Dean, der sogleich hinter seinem beeindruckenden Schlagzeug Platz nimmt, gefolgt von Bassist und Percussionist Ceri Monger und Gitarrist Dean White. Für seine Keyboard-Parts hat er Unterstützung von einem neuen Mann, Nguyen Green, der sich aber ganz im Hintergrund halten wird. Justin Sullivan nimmt einfach seine Gitarre, ein kurzer Blickkontakt mit den anderen, dann dreht er sich zum Publikum und ruft: „Whichevery way the tide comes blow-iiing!“ Die Show startet also mit „Coming or going“ aus Unbroken. Wir grooven uns ein paar Takte ein und nehmen dann direkt Körperkontakt auf. Ohne Pause geht es mit „Long goodbye“ von Strange brotherhood (1998) weiter, zu dem bereits die ersten T-Shirts vom Leib gezogen werden. Die Temperatur steigt, die Luftfeuchtigkeit ebenfalls. Böse Zungen könnten jetzt „Rentner-Pogo“ sagen bei einem Altersdurchschnitt von 50+, aber es geht ordentlich zur Sache. Die erste Person liegt auch schon am Boden, wird aber natürlich schnell wieder hochgehoben. Die erste Vorabsingle ist auch schon bestens bekannt, und so erschallt „First summer after“ besonders laut. Da wird „Language“ direkt noch hinterhergeschoben. „The language of war will bring us war!“ Justin rollt dabei eindringlich mit den Augen. Mit dem wunderschönen „Winter“ vom gleichnamigen Album (2016) wird es zwar endlich etwas ruhiger, doch ausruhen ist im Pit nicht möglich. Überhaupt mischen auch einige Frauen mit und teilen ordentlich gegen das männliche Publikum aus, so muss das. Bislang ist Justin eher ungewöhnlich still gewesen, erst jetzt wendet er sich ans Publikum: „Guten Abend!“, was mit Jubel quittiert wird. „So welcome back to this swimming pool, we kinda love this place! In hard times, what will get us through I think is a lot of attitude and a lot of love. We’ll play you one about attitude.“ Damit folgt „If I am still me“. Dies ist nun eine willkommende Gelegenheit, um innezuhalten und etwas zu verschnaufen. IMG_0033_swEin Fan steigt auf die Schultern eines Kollegen, gestützt von drei anderen, wie mensch es von NMA-Shows kennt. Er performt den Song über der Menge, immer wieder ein toller Moment. Justin bringt noch einen Spruch über das Backstage Werk, das ihn an einen Swimmingpool erinnert, wobei Sauna auch sehr passend ist. „So the idea is this: You get fuckin‘ hot and wet inside, then you go out in the icy cold, and then you get sick the next day. And then…“ Tja, eigentlich keine gute Idee, wie er selbst merkt. Das folgende „Stormclouds“ von Between dog and wolf (2013) fällt heftig aus, denn Ceri hämmert zusätzlich in die Drums und bringt zusammen mit Michael am Haupt-Schlagzeug das Backstage zum Beben.

Nun meint Justin: „We play you a couple of relationship songs“, und den Anfang macht dabei „Do you really want to be there?“ Der Refrain wird dabei besonders laut mitgesungen, und der Song endet im Blitzlicht-Gewitter. „And a lovesong!“, der auf No rest for the wicked (1985) zurückgeht: „No greater love“, das wahnsinnig intensiv ist und bei mir trotz der Hitze eine stabile Gänsehaut auslöst. Danach dämpft „Deserters“ etwas die Stimmung. Zum einen ist eine Atempause dringend nötig, zum anderen empfinde ich das Schlussstück des neuen Albums als irgendwie sperrig, und das nach dem erhabenen „Idumea“ auf mich ein wenig deplatziert wirkt, wie eine Bonus-Zugabe. Dafür heißt es nun: „We play you a couple of old songs“, was sofort Begeisterung hervorruft. Mit „225“ und „Green and grey“ folgt ein Doppelpack von Thunder and consolation (1989). Mit halbem Tempo startet die Band „225“, und ich genieße den Moment, dabei hätte ich es besser wissen müssen. Die aufgebaute Spannung explodiert im Publikum in einer ringförmigen Wall of Death, und ich stecke mittendrin. Erst geht es im Pit also wieder richtig zu, dann wird gemeinsam geschwelgt. Justin meint dazu: „The antidote to that song is this one. In these days populist, nationalist und religious nutcases promising you a future totally great. We all know way better than that. So we play you this one.“ Der bereits erwähnte Fan steht bei „Green and grey“ wieder on top, und auch einige weibliche Fans sitzen auf den Schultern ihrer Begleiter. Alle singen leidenschaftlich mit, was eine stabile Gänsehaut auslöst, und wie immer muss ich mir ein paar Tränen wegwischen. Der Song verfehlt live einfach nie seine Wirkung. Da fügt sich das eben schon angesprochene ebenfalls ruhige und irgendwie entrückte „Idumea“ bestens an, übrigens wieder mit Ceri an den zusätzlichen Drums. Anschließend erklärt Justin ironisch: „Meanwhile back in the material world we bring you news from Brexit-Island“, was natürlich mit Gelächter quittiert wird. Dann schreit er unvermittelt: „If I gotta see another fuckin‘ Union Jack flying on the order of the government, I’m gonna be sick!“ Damit zieht „Reload“ das Tempo wieder an, und mit dem dank dem energischen Dean an der Gitarre sehr aggressiven „Angry planet“ von Between wine and blood (2014) wächst der Pogo noch einmal auf das Doppelte an. Die Band nimmt das Tempo raus bis zum Stillstand, nur um wie die Pferde vom Bühnen-Backdrop wieder wild loszugaloppieren. Ceri lässt sogar in bester Metal-Manier seine rote Mähne fliegen. Nun folgt mit „Purity“ von Impurity (1990) ein weiterer Überhit, der natürlich lauthals von allen mitgesungen wird. „Revolution forever…“, die Arme hochreißen, die Gesichter der anderen, Gänsehaut. Momente, die sich festbrennen. Mit „Wonderful way to go“ noch mal von Strange brotherhood endet wie schon oft der offizielle Teil der Show. Das nahende Ende mobilisiert noch einmal die Kräfte bei uns erschöpften Fans.

IMG_0056_swDie Band zieht sich zurück, aber jede*r weiß, das war es noch nicht, und oft gibt es einige Überraschungen, so auch heute. Nachdem eifrig geklatscht, gejohlt und gepfiffen wurde, kehren NMA auf die Bühne zurück, und Justin verkündet eine traurige Botschaft: „Thank you very much! There was a gentleman by the name of Nigel Mortem who was our first professional manager. He managed us from 1983 to 1991. He really helped us to get going and starting. Last night he died aged seventy. Would you give him a big fucking round applause!“ Natürlich wird es jetzt laut im Backstage. „To remember him we play our very, very, very, very, very first single. Like this.“ Und das ist „Bittersweet“ von Vengeance (1984). Das ist ein ganz besonderer Moment, und wirklich viele singen wieder mit. Nun freue ich mich über „High“ vom gleichnamigen Album (2007), das ohnehin eher selten live berücksichtigt wird. Dafür gibt es auch noch einmal einen Standplatz auf den Schultern. „Thank you very much for support, for coming out tonight!“ heißt es nun. „Take good care of each other. We play you this!“ Bereits zu den ersten Takten von „Get me out“ von Impurity fliegen die Menschen kreuz und quer, und gleich drei Mannen fallen aufeinander verknotet vor meine Füße. Es ist trotz vereinter Kräfte gar nicht so einfach, ihnen wieder hochzuhelfen, und der unterste schreit schließlich noch am Boden liegend mit allen anderen mit: „Get me out!“, während um ihn herum der Pogo brodelt. Das hätte passender nicht getimet sein können. Nach dem fulminanten Finale winkt die Band zum Abschied, Justin knockt sichtbar schwer atmend auf seine ikonische Art und Weise mit der Faust gegen das Mikro, und die Show ist aus.

Eigentlich. Denn das Münchner Publikum lässt einfach nicht locker und lärmt erbarmungslos weiter, ich sehe dabei einen jungen Fan, der etwas aus der Nase blutet, aber glücklich ist. Es scheint also zum Glück nicht schlimm zu sein. Und tatsächlich kehren NMA schließlich noch einmal für eine nicht geplante Zugabe zurück. „This is another old song. We are all encouraged these days to be scared of each other. I think the much important thing is that we actually do not hostage each other. So we play you this one.“ Tatsächlich wirkt „Frightened“ von No rest for the wicked erschreckend aktuell, denn die Lyrics lassen sich problemlos in die heutige Zeit und auf die ach so „besorgten Bürger“ übertragen. Nach dem Applaus schaut Justin ungläubig in die Menge: „I look into your faces, you look like you still have energy.“ Und wie, die Menge brüllt begeistert wie Fünfzehn- und nicht Fünfzigjährige. „You look really, really young tonight! One more, this is a dance music as you got to remember, we play you this one!“ Mit „Poison street“ von The ghost of Cain (1986) folgt IMG_0084noch einmal ein echter Knaller. „You gave me light, you gave me light and thunder…“ Für keine Band trifft das so sehr für mich zu wie für New Model Army, und vielen hier heute im Backstage geht es ähnlich. Noch einmal verabschiedet sich nach exakt zwei Stunden die erschöpfte Band, noch einmal knockt Justin das Mikrofon weg, und wir im Publikum müssen uns erst einmal sammeln. An der Bar und am Merchandise klingt der Abend aus, und an der Garderobe hängt zufällig wie ein letzter Gruß eine alte handbemalte The Ghost of Cain Lederjacke. Schönes Ding! Ich schleppe meinen geschundenen Körper heimwärts und bin trotzdem so aufgedreht, dass ich lange nicht einschlafen kann.

Fazit: Donkeyhonk Company machen ihre Sache sehr gut und heben sich wohltuend aus der Masse der für meine Begriffe teils recht merkwürdigen Vorbands ab, die ich im Laufe der Jahre erleben durfte. Ihre Mischung aus Rock ’n‘ Roll, Country und Folk Rock wirkt sehr eigenständig und verbreitet gute Laune, die sich auf das Publikum überträgt. Damit passen sie wirklich gut zu New Model Army.
Und die präsentieren sich, wie wir sie lieben. Drum & Bass and Dance Music, heiß und verschwitzt und wahnsinnig intensiv. Die neuen Songs müssen bei einigen sicherlich noch sacken, und manch eine*r hätte sich vielleicht noch mehr alte Stücke gewünscht. Aber zum einen ist klar, dass ein neues Album von der Band auch entsprechend vorgestellt werden will, und viele Fans eben auch die neuen Sachen live hören wollen. Zum anderen gibt es ja heute auch ein breites Spektrum über elf Alben hinweg mit vielen tollen alten Songs bis hin zur ersten Single überhaupt. Mögen sie uns noch eine lange Weile erhalten bleiben. Eine in Deutschland komplett und ansonsten so gut wie ausverkaufte Tour spricht für sich.
:mosch: :mosch: :mosch: :mosch: :mosch:

Setlist New Model Army:
Coming or going
Long goodbye
First summer after
Language
Winter
If I am still me
Stormclouds
Do you really want to be there?
No greater love
Deserters
225
Green and grey
Idumea
Reload
Angry planet
Purity
Wonderful way to go

Bittersweet
High
Get me out

Frightened
Poison street

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