„Klang ist die Störung der Stille. Stille ist Ruhe und Bewegung“

Seit 2020 kreieren Jo und Misa mit ihrem gemeinsamen Musik-Projekt Videotraum faszinierende Darkwave-Klänge und erforschen mit ihrer Musik die urbane Dunkelheit der pulsierenden Industrie-Großstadt. „Du & Ich“ ist der aktuelle Song des Hamburger Duos – ein wunderbar melodischer Song, der bewegt und berührt. Am 14. Februar erscheint neues Material – eine Split-EP mit Lorenzo Mancino, die  über Crave Tapes veröffentlicht wird.  Wir freuen uns darauf!

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In unserem Interview teilen Jo & Misa mit uns ihre Gedanken zum Thema Stille und sprechen dabei über musikalische und visuelle Assoziationen, über Kreativität, Hamburg als Quelle der Inspiration und die Herangehensweise und Entstehung des aktuellen Songs „Du & Ich“. Herzlichen Dank an Jo & Misa für das Interview!

Wie geht es euch seit unserem Interview im letzten Jahr? Woran habt ihr gearbeitet? Welche Themen bewegen euch derzeit?
Misa & Jo: Uns geht es gut, wir arbeiten langsam (lachen) aber stetig an unserer LP und hoffen, dass sie ganz bald fertig ist. Wir haben unsere ersten Shows auf dem Young & Cold Festival in Augsburg und auf dem Wake The Dead Festival in Hamburg gespielt, und das war sehr aufregend! Und wir sind dabei, unser Equipment aufzustocken und unsere Skills zu verbessern, um uns musikalisch weiter zu entwickeln.

Als wir euch zu unserer Interviewserie zum Thema Stille eingeladen haben, habt ihr prompt zugesagt. Inwieweit ist Stille ein Thema für euch? Womit verbindet ihr Stille? Was bedeutet Stille für euch?
Misa: Ich glaube, dass Stille etwas der Kreativität und in diesem Fall der Musik innewohnendes ist. Außerdem ist es auch ein sehr subjektives Thema, für viele Menschen kann Stille unterschiedliche Bedeutungen haben, für mich ist Stille Ruhe und gleichzeitig eine Möglichkeit etwas zu schaffen und auszudrücken. Stille kann Teil von Musik sein.
Jo: Für mich hat Stille etwas mit innerer Ruhe zu tun, die ganzen äußeren Ablenkungen ausblenden und still werden, das ist gar nicht so einfach in einer Welt voller Reizüberflutungen. Ich mache (oder versuche) das öfters draußen in der Natur. Ich glaube Stille/Ruhe zu finden ist total wichtig für das Gleichgewicht zwischen Produktivität und Ruhephasen. Das brauchen auch kreative Prozesse, um Dinge, die passiert sind zu verarbeiten, einen Punkt zu machen. Das schafft Raum für neue Ideen.

Ihr lebt in Hamburg, was gefällt euch an dieser Stadt?
Jo: Für mich ist Hamburg der Hafen in meinem Herzen. Ich bin ja hier aufgewachsen und habe dann viele Jahre erst in Berlin und dann in Mexiko gelebt, als wir vor ein paar Jahren nach Hamburg gezogen sind, habe ich Hamburg nochmal ganz anders zu schätzen gelernt.
Ich mag an Hamburg das viele Wasser, und dass durch den Hafen seit jeher Menschen von überall in der Stadt geblieben sind. Ich mag auch die Größe der Stadt sehr, es gibt super viele Angebote, aber Hamburg ist auch keine total anonyme Riesen-Stadt.
Misa: Mir gefällt, dass es für mich immer noch eine unbekannte Stadt ist, ich bin vor dreieinhalb Jahren hergekommen, und viele Dinge, Orte und Dynamiken sind immer noch neu für mich, da es in den zwei Pandemie-Jahren nicht so viele Möglichkeiten gab, mit der Stadt und ihren Leuten zu interagieren. Ich mag es sehr, dass es ein Hafen ist, das Thema Meer und Industrie fasziniert mich.

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© Manuel Schaper

Was braucht ihr, um kreativ zu sein? Lasst ihr euch auch von anderen Bereichen außerhalb der Musik inspirieren?
Jo: Auf jeden Fall! Mich inspiriert das Leben, Gespräche mit Menschen, die mir wichtig sind, Gefühle, die Natur, Geschichten …
Misa: Es fällt mir schwer, eine klare Antwort auf diese Frage zu geben, weil ich nicht weiß, was ich brauche, um kreativ zu sein (lacht). Kreativität ist in meinem Fall etwas, das unerwartet kommt. Ich kann Wochen, sogar Monate lang versuchen etwas zu kreieren, und an einem Tag plötzlich gelingt es mir in zwei Stunden. Außerhalb der Musik inspirieren mich meine Erfahrungen, der Ort, an dem ich lebe, die Menschen um mich herum, und obwohl es abgedroschen klingt, bringen mich meine tiefsten emotionalen Momente an musikalisch interessante Orte.

Wie inspiriert Hamburg, die Stadt in der ihr lebt, eure Musik, und wo sind eure Lieblingsorte, um euch inspirieren zu lassen? Inwieweit inspiriert euch urbane Kultur und ggf. die Auseinandersetzung damit?
Misa: Ich finde, dass Hamburg auf jeden Fall ein sehr cooler Ort für musikalische Inspiration ist. In letzter Zeit denke ich viel über die Hamburger Stadtlandschaft und ihre Menschen nach. Ich denke viel über unsere Freund*innen nach und die Gegenden, in denen sie leben, wozu sie gerne tanzen, und was sie gerne tun. Ich kann sagen, dass in meinem Fall die urbane Kultur vieles inspiriert, was ich derzeit erschaffe.
Jo: Ich glaube, dass unsere Umgebung uns sehr beeinflusst bei dem was wir tun. Wir wohnen in Wilhelmsburg, im Hafen Hamburgs umgeben von Industrie, Containern, Kränen, Schiffen, Wasser. Gleichzeitig ist unser Viertel aber auch ein bisschen dörflich und sehr multi-kulturell. Und dann ist da noch das graue Hamburger “Schietwetter”, das sich unbewusst auch mal mehr und mal weniger aufs Gemüt niederschlägt …
Ich glaube, würden wir noch in Mexiko-Stadt leben, würde unsere Musik anders klingen. Wie, weiß ich nicht (lacht), ist ne spannende Frage.

Was ist euer Lieblingssound/Lieblingsgeräusch? Gibt es ein Instrument oder eine Klangquelle, zu der ihr euch besonders hingezogen fühlt?
Misa: Ich glaube, ich würde sagen, dass der Bass, die Bassklänge in der Musik seit langem meine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Sowohl analoge als auch Synthesizer-Bässe, sie hypnotisieren mich.

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© domelka

Gibt es bestimmte Orte für euch, die ihr mit Stille assoziiert?
Jo: Ja, das ist witzig, als ersten Impuls sage ich einen Ort in der Natur (weitestgehend ohne Menschen). Aber wenn ich dann da bin, sind überall total viele Geräusche, vom Wind, Bäumen, Tieren … Die Natur ist überhaupt nicht still. Aber wir nehmen die “Naturgeräusche” meist nur wahr, wenn wir innerlich still sind. Sonst sind wir von den ganzen äußeren Reizen viel zu abgelenkt. Darum geht es dabei für mich, um die Stille in mir und die Wahrnehmung vom Hier und Jetzt um mich herum.
Misa: Wenn ich jetzt an Stille denke, verbinde ich sie mit Wäldern, mit großen und weiten Räumen, aber ich denke auch an die Nacht, obwohl das für manche Leute widersprüchlich sein könnte (lacht). Was für andere vielleicht seltsam sein mag, ist, dass ich Stille auch als die Momente betrachte, in denen ich allein mit meiner Musik bin oder meine Podcasts höre.

Sucht ihr Stille? Braucht ihr den Rückzug (aus der lauten Welt)? Wie wichtig ist Stille für euch?
Misa: Ich suche danach, ich könnte sagen, dass mein Raum der Stille das Arbeitszimmer ist. Die Momente, bevor ich Musik mache. Wie ich bereits in der letzten Frage erwähnt habe, ist mein Moment des Rückzugs aus der lauten Welt der, in dem ich meine Kopfhörer aufsetze und mich für einen Moment von allem abkapsle, das ist für mich auch ein Moment der „Stille“. Ich finde es wichtig, diese ruhigen Orte zu haben, um meine Batterien aufzuladen und weiterzumachen. Ich arbeite in einer Fabrik, in der ich acht Stunden lang bei sehr lautem Lärm eingeschlossen bin. Eines der Dinge, die ich am liebsten tue, wenn ich nach Hause gehe, ist, meine Kopfhörer aufzusetzen. Sie aufzusetzen, um den Lärm zu isolieren und mich auf dem Heimweg auszuruhen. Stille ist wichtig.
Jo: Ich brauche das absolut, also die Flucht aus der lauten äußeren Welt, und mir gelingt es am besten mit physischem Kontakt zur Natur, also auf einer Wiese, in der Nähe eines Baumes etc. Auch Tiere zu beobachten lässt mich ruhig werden.

Was ist Klang für euch? Wie klingt Stille?
Misa: Klang ist die Störung der Stille. Stille ist Ruhe und Bewegung.
Jo: Für mich klingt Stille nach Frieden.

Welche Musikstücke sind für euch zu Klang gewordene Stille?
Misa: Was für eine schöne Frage, ich hatte mir diese Frage nie wirklich gestellt, aber jetzt, wo du sie stellst, fällt mir ein sehr schönes Musikstück namens „Silencio“ (dt. „Stille“) von Ibrahim Ferrer & Omara Portuondo ein. Es ist ein sehr schönes und trauriges Lied, aber wenn man es hört, spürt man auch die Schönheit der Akkorde und der Stimme.

Wie würdet ihr den visuellen Aspekt von Stille beschreiben?
Misa: Diese Frage ist schwierig, aber in meinem Kopf entsteht fast immer das Bild von weiten, großen Räumen. Ein klares Beispiel ist der Weltraum, das Universum, die Unendlichkeit. Wenn man darüber nachdenkt, herrscht im Universum ein großes Chaos, viele Dinge passieren gleichzeitig, Kollisionen von Sternen, Galaxien werden geboren, schwarze Löcher verschlingen Planeten, aber alles in Stille.

Was könnt ihr uns über euren aktuellen Song „Du & Ich“ erzählen? Wie sind der Song und das Video dazu entstanden? Was bedeutet der Song für euch? Habt ihr schon bestimmte Bilder im Kopf, wenn ihr anfangt, einen Song zu schreiben?
Jo: Für „Du & Ich“ hat mich Misas Beat inspiriert, ich hatte sofort ein Bild/Gefühl von zwei Personen oder Wesen, die zusammen durch das Universum fliegen und tanzen und eine starke Verbindung miteinander haben. „Du & Ich“ ist ein Song über Liebe in einem größeren Sinne, nicht nur reduzierend auf romantische und heteronormative Liebe. Es gibt so viele Facetten von Liebe, die Liebe zu unserer Familie, unseren Freund*innen, den Tieren, der Natur und natürlich auch die romantische Liebe. In dem Song feiern wir die Liebe in ihren unterschiedlichen Formen und Farben. Daher auch das Video. Wir haben Menschen, die wir lieben, gefilmt. Viele der Takes für das Video sind auf einer Reise in Spanien entstanden, wo einige unserer Herzensmenschen von uns leben. Aber wir haben auch in Mexiko, den USA, Deutschland und hier in Hamburg mit uns sehr wichtigen Menschen gedreht.

Wie war es für euch, in den letzten Monaten endlich wieder auf der Bühne zu stehen und eure Songs live zu spielen?
Jo: Die beiden Konzerte letztes Jahr waren tatsächlich unsere ersten Konzerte, deshalb haben wir gar keinen Vergleich (lacht), eigentlich war unser erstes Konzert 2021 in Hamburg geplant, aber das musste dann Corona-bedingt abgesagt werden. Die Konzerte waren total aufregend für uns, und wir waren natürlich sehr nervös vorher. Aber dann hatten wir richtig viel Spaß, und wir freuen uns sehr auf hoffentlich viele kommende Shows.
Misa: Es war ein unglaublicher Moment, voller Nervosität, aber auch aufregend. Auf der Bühne zu stehen und die Musik zu spielen, die man macht, damit die Leute dazu singen oder tanzen können, ist wunderbar, es sind besondere Momente, die mich mit Freude erfüllen.

Was sind eure Pläne? Worauf freut ihr euch am meisten?
Jo: Wir freuen uns schon so sehr darauf, unsere Platte in den Händen halten zu können und können es manchmal immer noch nicht glauben, dass Young & Cold uns das ermöglichen.
Misa: Jetzt geht es darum, mehr Musik zu machen, unsere Fähigkeiten zu verbessern und zu versuchen, auf mehr Bühnen auftreten zu können. Crave Tapes aus Berlin haben uns eingeladen, eine Split EP zusammen mit Lorenzo Mancino zu veröffentlichen, die im Februar erscheint. Und wir arbeiten gerade mit Hochdruck an unserer LP, die bei Young & Cold Records erscheinen wird.

Vielen Dank an Dich, Anomena für die Einladung und die super interessanten Fragen! Es hat uns viel Spaß gemacht uns darüber Gedanken zu machen!

Videotraum live:

15. Februar in Hamburg (Uebel & Gefährlich)

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