Tot und Schrott, aber geil
Endlich sind die Berliner The toten Crackhuren im Kofferraum wieder in München zu Gast, und das mit dem langersehnten dritten Album Bitchlifecrisis. Das zweite Album Mama ich blute ist schließlich bereits von 2013 und das Debüt jung, talentlos und gecastet von 2010. Das wird sicher wieder eine feine Sause. Die Vorband Schrottgrenze aus Hamburg sind mir bislang unbekannt, dabei wurde die Band bereits 1994 gegründet. Allerdings erfolgte nach Bandauflösung 2010 ein Neustart 2016 in neuer Formation, die mit Glitzer auf Beton 2017 das aktuelle achte Album veröffentlichte. Bange Sekunden für mich am Einlass, doch zum Glück gehöre ich nicht zu den Opferfreunden, sondern stehe auf der Liste „Plus 1“ und werde durchgewunken.
Gegen halb acht ist es im Club noch recht übersichtlich, ganz im Gegensatz zur langen Schlange vor dem Werk für Kissin‘ Dynamite. Tja, leider falsch entschieden, soviel schon einmal vorweg. Schrottgrenze beginnen pünktlich um acht und überraschen mich zunächst mit einer toll gestylten Front-Queen, bei der*dem manch eine*r sicherlich zweimal hinschauen muss. In einem Interview mit dem Online-Mag Bleistift hat Alex sich übrigens als „non-binäre, pansexuelle Trans*person“ bezeichnet. Mit „Nichts ist einsamer“ und „Glitzer auf Beton“ eröffnen Schrottgrenze selbstbewusst den Abend. Die nächste Überraschung ist für mich die gute Musik irgendwo zwischen Indie, Punk Rock und Post Punk. Allerdings stehen hier auch keine Anfänger auf der Bühne, denn Alex Tsitsigias (Gesang und Gitarre) ist ebenso Gründungsmitglied von Schrottgrenze wie Gitarrist Timo Sauer, Schlagzeuger Benni Thiel ist auch schon seit 2006 dabei, und Bassist Hauke Röh hat sich vorher mit Station 17 und Frau Potz einen Namen gemacht. Nun erklärt Alex: „Wir fühlen uns geehrt, für die Crackhuren anzuheizen!“, und kündigt in den Beifall hinein den nächsten Song an: „Das nächste Lied handelt von einem zuckersüßen Transmann, und es heißt ‚Januar Boy‘!“ Wem das noch nicht eindeutig genug ist, für den folgt der nächste Song „Sterne“, ein toller Song mit einer wichtigen Botschaft: „Lieb‘ doch einfach wen du willst!“, und das unabhängig von Geschlechterspezifikationen.
„Wir spielen jetzt ein altes Stück, und das erfordert, dass ich meine Gitarre stimme. Es handelt von meiner traurigen Kindheit in Niedersachsen und heißt ‚Am gleichen Meer‘!“ Hauke sorgt am Bass für Post Punk Flair und lässt sich, eher introvertiert, oft mit geschlossenen Augen einfach treiben, aber auch bei Benni am Schlagzeug und bei Gitarrist Timo kann man die Leidenschaft für die Musik spüren. Dementsprechend ist die Stimmung sehr gut, Schrottgrenze haben das Publikum längst für sich eingenommen, und es gibt wieder lauten Beifall. „Vielen Dank!“ Nun folgt „Fotolabor“, dann verkündet Alex: „Dieses Lied heißt ‚Lied vom Schnee‘!“ Er spielt die erste Hälfte solo, wodurch die schöne Stimme noch besser zum Tragen kommt. „An meine Freundinnen und Freunde aus München: Habt ihr Bock?“ – „Jaaa!“, da fällt die Antwort im mittlerweile gut gefüllten Club eindeutig aus. Als Belohnung gibt es „Life is queer“, das „vom neuen Album im Oktober“ stammt. Die gute Stimmung nutzt Alex geschickt aus: „Ich will euch alle mitklatschen sehen!“, was auch direkt bestens funktioniert. Über den Rhythmus hinweg erklärt Alex: „Die Crackhuren und wir, wir haben eine gemeinsame Geschichte. Wir widmen den Crackhuren daher den folgenden Song ‚Lashes to lashes‘!“ Wer aufmerksam ist, entdeckt hier auch eine Referenz an David Bowie. Wieder gibt es reichlich Beifall, dann heißt es: „Okay, Friends, wir kommen langsam auf die Zielgerade zu“, und über „Mann* am Punkt“ und „Fernglas“ kommen Schrottgrenze nach 45 Minuten zum Ende. „Wir wünschen euch einen wunderschönen Abend! Vielen Dank! Das letzte Stück heißt ‚Lila will heim‘!“ Die Band wird bejubelt, ist sichtlich gerührt und verbeugt sich zusammen zum Abschied.
Mit nur fünfzehn Minuten Umbaupause, die kaum für einen Merch-Besuch ausreicht, kommt keine Langeweile auf, dann startet bereits das Intro, das The toten Crackhuren im Kofferraum ankündigt. Die Show eröffnen sie mit dem Hit „Geniale Asoziale“. Lange brauchen die Sängerinnen Luise „Lulu“ Fuckface, Doreen K. Bieberface, Ilay Newman und Kristeenager, die zusätzlich das Keyboard bedient, nicht, um ihr Publikum im Griff zu haben, genaugenommen nur bis zum ersten Refrain, dann kocht die Stimmung bereits. Unterstützt werden die Vier dabei von Thomas Echelmeyer am Bass, Schlagzeuger Daniel Reuschenbach und Gitarrist Mötley Chrü Funface, die sich aber im Hintergrund der für sieben Personen eigentlich viel zu kleinen Bühne halten und das Rampenlicht den Crackhuren überlassen. Pinke Laserschwerter an den Mikrofonständern sorgen für maximalen Coolness-Faktor, bringen aber den Kamerasensor zur Verzweiflung. Nun begrüßt Lulu kurz das Publikum standesgerecht mit: „Hallo München und ‚Prost‘ erst einmal!“
Mit „Jobcenterfotzen“ folgt sogleich der erste Song vom neuen Album Bitchlifecrisis, der sofort Pogo auslöst und lautstark mitgesungen wird, dass es wahrscheinlich noch in der Kapuzinerstraße zu hören sein wird. Nur, dass um diese Uhrzeit natürlich niemand mehr dort arbeitet. Bevor es weitergeht, stimmt Lulu zu Ehren von Doreen ein Liedchen an: „Wer hat denn heut‘ Geburtstag? Wer hat denn heut‘ Geburtstag?“ Klar, dass das Publikum sofort miteinfällt. Auf „Katzenfleisch“ folgt „Crackhurensöhne“, beides wird gnadenlos abgefeiert. Mittlerweile geht es wirklich heiß her, und so entledigen sich die Crackhuren ihrer Ballonseiden-Jacken, und Lulu erörtert ihr Deo-Problem, das sie seit dem Wechsel zur aluminiumfreien Variante hat. Derlei Ausführungen sorgen naturgemäß für reichlich Gelächter, das sie entrüstet kommentiert: „Ich will nicht stinken!“ Das Thema passt gut, denn „Das nächste Lied ist gegen Sport!“, und so singen alle „Wir hassen Sport“ lauthals mit. Ironischerweise könnte man die Tanzchoreographien, die die Crackhuren zu den Songs aufführen, durchaus auch als Sport bezeichnen. Nach „Bambi“ ist wieder Zeit für einen Spruch: „Ich weiß nicht, ob ihr’s schon wußtest: Ich befinde mich gerade im Eisprung!“ Die Jungs im Hintergrund rocken nun richtig ihre Instrumente, denn „Spaß muss sein“, und die Münchner danken es mit Pogo vor der Bühne. Da kommt das neue „QVC gegen Geilheit“ gerade recht, irgendjemand brüllt begeistert von hinten: „Nicht übel!“ Doch Lulu entgeht der gewollt ironische Unterton des Kompliments nicht und schnauzt grinsend schlagfertig zurück: „Halt’s Maul!“, und so ist der Typ erst einmal still. Das nun folgende „Ronny und Clyde“ widmet Lulu der Vorband: „Vor 17 Jahren hab ich mich auf einem Konzert von Schrottgrenze entjungfern lassen!“ Das sorgt für wilde Tanzeinlagen, allgemein glänzende Stimmung und glückliche Gesichter bei den Crackhuren, die sichtlich Spaß an der Show und dem Publikum haben.
„Leute, habt ihr Bock auf was richtig Unangenehmes?“ Was für eine Frage, und so sind schnell zwei Freiwillige gefunden, die auf der Bühne niederknien und sich mit nacktem Oberkörper zu „Patschouli-Öl“ einölen lassen, natürlich nur mit pinken Gummihandschuhen, und die Menge johlt dazu. Auf diese Weise karikieren die Crackhuren die weibliche Zurschaustellung auf Showbühnen und in den Medien allgemein. Hinterher erklärt Lulu: „Das riecht jetzt ein bisschen scheiße, sorry“, und die Menge johlt erneut. Zur Entschädigung wird eine mit Sangria gefüllte Urne dem Publikum übergeben. Über den nächsten Song „Behindert“ sagt sie: „Der Typ, für den ich dieses Lied geschrieben habe, steht dort hinterm Merchandise!“ Wie nett, dann hätten wir das jetzt auch geklärt. Weiter geht es mit „Auf einem Bett aus Pizzaschachteln“ und „Hämatom“, „Alles Lüge“ geht nahtlos in „Dreckige Wäsche“ über. Vor „Ihr kriegt mich nicht“ muss noch einmal ein Ständchen sein: „Wer hat denn heut‘ Geburtstag?“ Danach wird „Klaus“ mitgesungen und gefeiert, bevor die Background-Band bei „Rumlaufen Stress machen“ explodiert. Deren Energie wird durch Stroboskop-Einsatz zusätzlich angefeuert, und im Pogo geht es folgerichtig wieder rund. Während die einen noch nach Luft schnappen, singen einige scheinbar mitgereiste männliche Fans: „Alles was ich will sind ‚Süße Boyz‘!“ Sie kennen die Setlist bereits, und so wird der folgende Song quasi vorweggenommen. Klar, dass dann wirklich alle im Club mitsingen. Ein Fan reicht Doreen anschließend einen frischen Gin Tonic von der Bar, und so geht es wieder los: „Wer hat denn heut‘ Geburtstag?“ Mit „OK Ciao“ und „Kopf, Knie“ endet das Set, und zur Textzeile „ich zeig dir wie man durchdreht“ fliegt im Pogo die Kuh. Die Crackhuren stolpern von der kleinen Bühne, und das Publikum nutzt die kurze Pause zum Verschnaufen, denn hier ist noch nicht das Ende, das ist jedem klar.
Dann steigt einer auf die Bühne ans Mikrofon und stimmt „Happy birthday to you“ an. Das lockt zunächst Doreen zurück, die sich gerührt bedankt. Sie verschwindet aber wieder im Austausch mit Lulu und Gitarrist Mötley Chrü Funface, der sie nun auf dem Klavier aka Keyboard begleitet. „Wir sind keine Band (Wir sind ’ne Selbsthilfegruppe)“ wird akustisch gelungen dargeboten, und erst im letzten Drittel des Songs stößt der Rest der Selbsthilfegruppe dazu. „Wie seid ihr eigentlich reingekommen?“ fragt Lulu ironisch in die lachende Menge und bittet: „Klatscht mal!“ Die Leute reagieren sofort und liefern damit den Rhythmus für den Sprechgesang von „Minus 1“, das heftig abgefeiert wird. „Du und deine Opferfreunde kommen hier nicht rein, denn du stehst auf der Liste leider ‚Minus 1‘!“ Die Münchner brüllen sich den Frust von der Seele. „Ich brauche keine Wohnung“ steht dem in nichts nach, und bei dem Überhit „Ich und mein Pony“ gibt es vor Freude kein Halten mehr. Doreen lässt sich sogar vom Bühnenrand fallen und einmal durch den Club tragen. „Wir haben ja schon viele als Hurensöhne bezeichnet,“ erklärt Lulu, „aber Jens Spahn ist ein mieser Hurensohn!“, was für johlende Zustimmung sorgt. Beim letzten Song des Abends „Ich hab keinen Spaß“ antwortet das Publikum bei eben jener Textzeile lauthals „Fick dich, Jens Spahn!“ Was für ein Spaß, was für ein Abend! Zum Abschied wird fleißig gewunken, und wer bis jetzt noch nicht entsprechend eingedeckt ist, muss sich am Merchandise beider Bands durchkämpfen.
Fazit: Mit Schrottgrenze ist heute endlich mal eine richtig gute Vorband zwischen Indie und Punk Rock dabei, die mit ihrem tollen Auftritt, den intelligenten Texten und wichtigen Botschaften für Geschlechtertoleranz definitiv neue Fans dazugewonnen haben.
The toten Crackhuren im Kofferraum sind ohnehin eine eigene Kategorie für sich, Electro Punk mit Riot Grrrl Attitüde inklusive einer gehörigen Portion Trash und Ironie, da heißt es nur lieben oder hassen. Tot und Schrott: Ein tolles Package und eine geile Party! Schade ist nur, dass die Crackhuren als stark auftretende Frauenband vom eigenen Geschlecht kaum Support bekommen, sind doch im Publikum an die 80 % Männer vertreten.
Setlist The toten Crackhuren im Kofferraum:
Intro
Geniale Asoziale
Jobcenterfotzen
Katzenfleisch
Crackhurensöhne
Wir hassen Sport
Bambi
Spaß muss sein
QVC gegen Geilheit
Ronny und Clyde
Patschouli-Öl
Behindert
Auf einem Bett aus Pizzaschachteln
Hämatom
Alles Lüge
Dreckige Wäsche
Ihr kriegt mich nicht
Klaus
Rumlaufen Stress machen
Süße Boyz
OK Ciao
Kopf, Knie
–
Wir sind keine Band (Wir sind ’ne Selbsthilfegruppe) (akustisch)
Minus 1
Ich brauche keine Wohnung
Ich und mein Pony
Ich hab keinen Spaß
(8320)