Samstag, 14.05.2016

Phoebe

Den Samstag starteten wir nach einem ausgiebigen Frühstück erst einmal mit einem Stadtbummel, statteten der schönen Nikolaikirche einen ausgiebigen Besuch ab, danach ging es zur ziemlich vollen und irgendwie prolligen Moritzbastei, bevor wir uns dann am frühen Abend in Richtung Musikalische Komödie aufmachten, wo wir circa eineinhalb Stunden anstehen mussten für das Musical Dracula. Es war zwar kalt und windig, aber man kam wie immer mit netten Leuten ins Gespräch. Da wir früh genug dran und nah genug an der Eingangstür waren, bekamen wir zwei Karten aus dem kleinen Kontingent von 50 Stück für WGT-Besucher. Es gab noch einen kleinen Snack, ein kleines Glas Wein und danach zweieinhalb Stunden Augen- und Ohrenschmaus. Der amerikanische Komponist Frank Wildhorn hat die Geschichte um den Grafen Dracula und seiner Suche nach frischem Blut zu einem tollen Horror-Musical gemacht. Die Bühne düster, die Gestalten ebenso, wie passend zum WGT! Immer wieder schön war es auch, das fein herausgeputzte „normale Publikum“ zu beobachten, wie sie so unfreiwillig mit dem schwarzen Volk interagieren musste. Aber: es klappte, und zwar gut!

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​torshammare

Den Samstag verbringe ich nach einem ausführlichen Besuch im Heidnischen Dorf (Bekannte am Stand besuchen) großteils im Alten Landratsamt, wo heute die Elektrokeule ausgepackt wird. Den Anfang machen die Finnen Kuroshio, die mit putzigem Akzent und höchst tanzbarer Mischung aus Elektro und Utz-Utz schon mal die Bude ordentlich anheizen. Mir war die Band bisher unbekannt, aber als Tanzflächenfüller überzeugt sie mich voll und ganz. Die Bühnenshow ist eher unauffällig, andere Elektrobands zeigen, dass hier auch mit nur zwei Mann Besetzung durchaus noch mehr geht. Aber alles in allem passt das als Aufwärmer am späten Nachmittag sehr gut.

Reaper

Reaper

Nach kurzer Essenspause beim Asiaten im Hauptbahnhof bin ich rechtzeitig zu Reaper wieder zurück, einem weiteren Projekt des umtriebigen Schweizers Vasi Vallis (Namnambulu, Frozen Plasma). Irgendwie hatte ich Reaper auch in die ohrenschmeichelnde Synthieecke verortet, was sich als grober Fehler herausstellt: Reaper polieren einem die Ohren mit brachialem Tanzsound, dass man mit selbigen nur noch schlackern kann. Die Halle schwingt kollektiv das Tanzbein, überall nicken die Köpfe zum Beat, und alle alle alle haben Spaß. Natürlich ist das eher Musik, bei der man das Gehirn vorher ausschaltet und es sich wegblasen lässt – aber ich mag das ab und zu, und heute ist das genau richtig. Daumen hoch für Reaper!

Danach wird es etwas avancierter, Dirk Ivens’ Sonar kommen auf die Bühne, und schon bald wummern die Bässe durchs Alte Landratsamt. Vor ein paar Jahren hatte ich Sonar auf dem WGT verpasst, umso mehr freue ich mich jetzt – doch tatsächlich wird das auf hohem Niveau angesiedelte Elektro-Noise-Projekt nach einigen Tracks ein wenig eintönig, da es doch an Variation mangelt. Nicht am Einsatz und der Bühnenpräsenz der beiden Herren an den Geräten, das auf keinen Fall. Ich verziehe mich aber trotzdem in die Moritzbastei, um noch ein wenig Synthiepop mitzunehmen. Leider ist es dort so überfüllt (bzw. noch überfüllter als normalerweise sonst um diese Uhrzeit), dass ich mir Ultranoire aus Ungarn nur aus weiter Entfernung anhören kann. Was man da so hört, klingt richtig schön, das muss ich daheim noch mal nacharbeiten. Die nachfolgenden Culture Kultür aus Spanien, wegen derer ich eigentlich da bin, lasse ich dann wegen Überfüllung ausfallen.

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Mrs.Hyde

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Christ vs. Warhol

Zu Sigue Sigue Sputnik ist das Täubchental völlig überfüllt, teilweise herrscht Einlassstop. Wir kommen zwar noch rein, sind aber zu spät dran, um noch einen Platz mit Blick auf die Bühne zu ergattern. Mehr als ein kurzer Blick auf Zehenspitzen ist nicht drin. So tragisch ist das aber auch nicht, da wir sie schon mehrfach gesehen haben und der Sound dafür gut ist. Der Konzertabend beginnt für uns also quasi erst verheißungsvoll mit Christ vs. Warhol. Leider ist Sängerin Eveghost erkältet und schlürft auf der Bühne Tee aus einem Thermobecher, und so ist ihre Stimme nicht ganz so kraftvoll wie gewohnt. Das machen aber ihre beiden Kollegen an den Langhalsinstrumenten mit ihrem Elan wieder wett, und so gefällt nicht nur mir ihr Deathrock-Auftritt. Tragic Black fallen leider Freunden aus Wien zum Opfer, die wir lange nicht gesehen haben, und so reicht es nur zu 2 1/2 Songs. Aber das gehört nun einmal auch zum WGT dazu. Dafür bekommt der Gitarrist von mir den Preis für den besten Iro des Festivals: gefühlte Länge 50 cm, perfekt in die Länge gezogen, wie gemalt.

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Lene Lovich

Bei Lene Lovich sind wir aber wieder voll dabei, denn ich warte seit 20 Jahren darauf, diese Legende einmal live sehen zu können. Und ich werde nicht enttäuscht. Sie trägt ein rot-schwarzes Kleid und eine abgefahrene Hut-Federn-Schleier Kombination. Zunächst ist sie davon völlig eingehüllt und entledigt sich während der ersten drei Songs der Schleier. Stimmlich ist sie trotz ihres Alters von 67 Jahren voll da, und ihre Performance ist skurrill und abgefahren. „Lucky Number“ von 1979 (!) wird vom Publikum begeistert gefeiert. Lediglich der „Bird Song“ wirkt vom Gesang her etwas hingerotzt. Stellt euch vor, ein verrückter Clown, eine durchgeknallte Voodoohexe und eine Geisha zeugen zusammen ein Kind. Das wäre dann Lene Lovich, und ich meine das als Kompliment. Es ist einfach toll zu sehen, wie viel Spaß ihr der Auftritt bereitet. Cinema Strange habe ich zwar schon oft, aber lange nicht mehr gesehen. An die Glanzleistungen früherer Auftritte können sie aber nicht anknüpfen, und ohne die abgefahren Iro-Stacheln ist auch die Bühnenperformance weit weniger ausdrucksstark. Die Publikumsreaktionen empfinde ich dazu passend auch irgendwie zurückhaltend, und es will keine rechte Pogostimmung aufkommen, wie früher sonst eigentlich immer. Die anschließende When-we-were-young-Aftershowparty ist zwar musikalisch sehr gut, allerdings auch so voll, dass man nicht mehr tanzen kann, sodass wir nach zwei Stunden schon gehen.

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Selofan

Zunächst zur Agra zum Shoppen, kurz zu Freunden ins Mokka-Zelt im Heidnischen Dorf und dann ab ins Stadbad zu Postpunk und Minimal Wave. Selofan spielen griechischen Postpunk mit einer schillernden Punkette-Frontfrau und einem Typ „griechischer Gemüsehändler“ an Keyboard, Bass und Saxophon. Die beiden wechselten sich mit dem Gesang ab, ihre Stücke waren (angenehm) punkig, seine gingen eher Richtung Wave/Gothrock. Hat mir sehr gut gefallen – die Neuentdeckung des diesjährigen WGTs.

Position Parallèle: Geoffroy D. kann’s ja doch noch. Nach dem lahmen Auftritt mit Dernière Volonté am Vortag ließ er hier den Rockstar raushängen und lieferte eine ambitionierte, an DM erinnernde Show zu flottem Minimalwave ab. Besonders die Mädels waren begeistert.

Xeno & Oaklander: Schöne Minimalelektronik bis hin zum Dream Pop mit bezaubernder Frontfrau zum Schwelgen und Tanzen.

Danach bin ich noch zum Rest der Leute auf einen Cocktail in der Moritzbastei gestoßen, und anschließend sind wir kurz ins Beyerhaus. Auf dem Weg haben wir noch dem Spontankonzert der Nachtigall im Busch am Wilhelm-Leuschner-Platz gelauscht. Dieser Vogel hat ein Repertoire drauf, da kann sich manche Band ’ne Scheibe abschneiden.

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Position Parallèle

Position Parallèle, dieses Projekt war mir bis dato unbekannt, aber sie waren ziemlich gut (Welle Erdball meets Dernière Volonté), und das Alte Stadtbad hat mir als Location auch sehr gut gefallen: mit Teppichboden, Jugendstil(?)atmosphäre und interessantem Speisenangebot draußen am Stand (Süßkartoffelpommes mit Guacamole oder Zitronenmayonnaise).

Selofan waren eher langweilig, bis auf die turmhohe Frisur der Sängerin, aber ich hatte falsche Voraussetzungen, mir war gesagt worden, die machen Wave, also hab ich mehr Melodie erwartet und keinen monotonen Punk. Aber dem ähnlich aussehenden Publikum hat es scheinbar getaugt.

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Tius

Anna von Hausswolff: Kleine Frau mit großer Stimme! Atmosphärische Klangcollagen mit unkonventionellem Songwriting bzw. -aufbau, stilistisch irgendwo zwischen Orgelmusik, Ambient und Shoegaze. Leider nicht ganz ohne Soundprobleme, weil es öfter gedröhnt hat, war aber noch hinnehmbar.

Position Parallèle: Geoffroy und sein Mitstreiter Pierre Pi haben den DV-Auftritt abgehakt und präsentierten bei bester Laune (die Pierre Pi auch nicht verflog, als ein Security ihm das Rauchen verbot) schnörkellosen Synthiepop im Stile der 80er Jahre.

Bei Xeno & Oaklander nahmen die Soundprobleme stellenweise leider wieder zu. Der große Tisch mit den vielen Synthies und dem Kabelgewirr war schon beindruckend.

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