Ein Nachhall des Winters

Winter-Severity-Index-DisgeloDas italienische Cold-Wave-Duo Winter Severity Index hat sich 2013 in Rom gegründet, mit ihren ersten beiden Alben haben sie sich eine Art Geheimtipp-Status im Underground erspielt. Sängerin Simona Ferrucci spielt dabei Bass und Gitarre und programmiert die Drums, während Alessandra Romeo Synthesizer und Keyboard bedient. Sechs Jahre haben sie sich für ihr drittes Album Disgelo Zeit gelassen, das nun bei Manic Depression Records / Icy Cold Records erschienen ist. Die Songs schrieben sie aber bereits vor der Pandemie.

Mit Keyboard und Synthesizern beginnt „Solar cycle 25“, bevor sich der Gesang von Simona dazugesellt und mit dem Nachhall eine unterkühlte Stimmung erzeugt. Das gefällt mir schon sehr gut, geht aber im Vergleich zum folgenden „State of matter“ fast als Warm-Up unter. Die Melancholie in der Stimme nimmt mich sofort gefangen, und der Rhythmus zwingt mich dazu zu tanzen und mich ganz dem Song hinzugeben, wozu ich satte zehn Minuten Zeit bekomme. Denn in der mir vorliegenden Promo-Version ist der Song zweimal hintereinander zusammengemischt, was mir vor lauter Hingabe zugegebenermaßen auch erst beim vierten Hören auffällt. Das stört mich also nicht im geringsten. Nach zwei Jahren mit eingeschränkter Bewegungsfreiheit wächst nicht nur bei mir „Fernweh“. Der Song ist perfekt dafür, um die Augen zu schließen und sich davon treiben zu lassen in eine andere Welt. Obwohl der Sound der Drums in „The tide“ aus „The wild boys“ von Duran Duran entlehnt zu sein scheint, entwickelt sich hier keine Dancefloor-Hymne, sondern ein sehr atmosphärischer Track, der eher zum Entspannen einlädt. Der ätherische Gesang erinnert mich dabei ein wenig an Alison Lewis von Linea Aspera.
Die erste instrumentale Hälfte von „Golden Age/ Labyrinth of memories“ würde ich Dark Electronics zuordnen, düster und tanzbar. Erst durch die einsetzende Stimme wechselt die Atmosphäre zu Cold Wave, mit der Betonung auf Wave. In „Cause and effect‘ habe ich plötzlich Melodiefragmente von „Love is a shield“ von Camouflage im Ohr, auch wenn ich diese gleichzeitig nicht richtig greifen kann. Der Sprechgesang ähnelt Anne Clark, insgesamt eine äußerst gelungene Mischung, die zum Tanzen auffordert. Noch dringlicher wird dies in „Another woman“, das dunkel und treibend ist, ohne den Gesang wirkt es schon fast ein wenig technoid, aber auf coole Art und Weise. Der Track hätte gerne noch länger sein dürfen, aber vielleicht gibt es dazu ja irgendwann einen 12″-Remix. Wie eine zarte Pflanze erblüht der letzte Song „Un roseau pensant“, von behutsam rezitierender Stimme begleitet. Zum Ende hin jedoch beginnt der Rhythmus noch einmal hypnotisch zu pumpen, bevor das Album langsam ausklingt.

Fazit: Als erstes fällt auf, dass Winter Severity Index den Baß scheinbar gar nicht mehr einsetzen, auch die Gitarre wird zugunsten von mehr Synthies reduziert. Das ist zwar irgendwie schade, aber nicht nur musikalische Entwicklung an sich, auch Disgelo zeugt von Veränderung. Es ist ein tolles düsteres und sehr atmosphärisches Album, das sich gegen aufkeimende Frühlingsgefühle stemmt und wie ein Nachhall des Winters wirkt, der eine*n frösteln lässt, aber gleichzeitig auch zum Tanzen einlädt. Wie passend, dass Disgelo im Italienischen Tauwetter bedeutet. Ansatzweise würde ich Sixth June und Lebanon Hanover zum Vergleich heranziehen, Anhänger der Bands und von Cold Wave allgemein sollten unbedingt in das eisige Schmelzwasser abtauchen.

Anspieltipps: State of matter, Cause and effect, Another woman

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Winter Severity Index: Disgelo
Manic Depression Records / Icy Cold Records, Vö. 18.02.2022
MP3 10,00 €, CD 12 € erhältlich über Bandcamp

Homepage: https://www.facebook.com/winterseverityindex/
https://winterseverityindex.bandcamp.com/
https://www.manicdepression.fr/en/
https://www.facebook.com/manicdepressionrecords/
https://manicdepressionrecords.bandcamp.com/
https://www.facebook.com/icycoldrecords
https://icycoldrecords.bandcamp.com/

Tracklist:
01 Solar cycle 25
02 State of matter
03 Fernweh
04 The tide
05 Golden Age/ Labyrinth of memories
06 Cause and effect
07 Another woman
08 Un roseau pensant

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