Die Schwedifizierung der Festivalwelt, Teil 2
Ein Vorteil des abrupt geendeten Abends ist, dass ich am Sonntag einigermaßen ausgeschlafen bin und voller Tatendrang mittags auf dem Tanzbrunnen-Gelände einlaufe. Nicht nur ich stelle überrascht fest, dass der Beach Club erst um zwölf Uhr öffnet, es hat sich bereits eine ansehnliche Schlange gebildet. Als wir dann endlich das Sand- und Liegestuhlparadies betreten dürfen, kommt der Türsteher mit dem Klickzählen der Besucher gar nicht mehr nach. Im Handumdrehen sind die Liegestühle besetzt, und man meint geradezu, das wohlige Seufzen aller zu hören. Der Blick auf Rhein und Dom, die vorbeiziehenden Lastenschiffe, der riesige Schattenspenderbaum … Da sind alle spielenden Bands einen Moment lang egal, was in meinem Fall bei den auf der Main Stage lärmenden Ost + Front auch stimmt. Neue Deutsche Härte wird nie mein Fall sein, und als dann noch die Sonne richtig runtersticht, verziehe ich mich auf der Suche nach ohrenfreundlicherer Musik ins Händlerzelt zum Hands-Stand. Dort verquatsche ich mich wieder kolossal, nehme natürlich auch Musik mit (wen es interessiert: MDD – Reverse the contrast) und schaffe es auf die Minute pünktlich zurück zur Main Stage, denn da habe ich einen Termin.
Warum man die sensationellen Schweizer The Beauty of Gemina immer noch auf den Mittagshitze-Slot um halb zwei setzt, werde ich nie verstehen, aber zumindest ist dadurch der Platz unter den Pilzen richtig voll, als Michael Sele uns begrüßt und die ersten Töne des treibenden „End“ anspielt. Heute wird es eine Rockshow geben, nach dem Akustikabend im Backstage letztes Jahr eine sehr schöne Ergänzung für mein Fanherz, und bei „All those days“ sieht man schon überall tanzende Menschen. „Bitter sweet goodbye“ ist zum Glück noch kein Abschied, sondern ein weiterer melancholischer Rocker. Bei den mächtigen Riffs von „Hunters“ nickt nicht nur mein Kopf sehr heftig, und beim Klassiker „The lonesome death of a goth DJ“ herrscht euphorische Stimmung vor der Bühne. Der Sound von The Beauty of Gemina ist nicht immer einfach, man muss sich auf die oft komplex aufgebauten Songs und die ganz besondere Art von Melancholie einlassen, dann wird man belohnt. Wir haben leider keine „Endless time to see“ dieses Konzert, mit diesem Song müssen Michael Sele, Ariel Rossi, Mac Vinzens und Markus Stauffacher sich verabschieden. Wieder mal ein verzaubernder Auftritt der Schweizer, und Michael Sele scheint seine Herzklappen-OP super überstanden zu haben. Schön!
Danach wartet das totale Kontrastprogramm in Form von Faderhead auf der Main Stage, der dieses Mal wieder auf sehr harte, tanzbare Songs setzt – als ich ihn das letzte Mal mit Covenant zusammen sah, lag der Fokus auf den weicheren Electrosongs seiner Karriere. Heute knallen die Beats aber ganz hervorragend unter den Pilzschirmen, und das Publikum hüpft sehr engagiert zu Songs wie „Generation black“ oder „Destroy improve rebuild“, was Sami nur recht ist, denn der Arme hat Hüfte und kann selbst nicht so eskalieren, wie er das gerne täte. Das übernehmen dafür seine drei Jungs an den Gerätschaften, die dafür sorgen, dass die Party auch auf der Bühne amtlich ist. Mit „The other side of doom“ gibt es auch einen neuen Song vom Album Asteria zu hören, das Anfang Oktober erscheint. Ich habe zwar gerade mein Mittagessen in der Hand, muss aber trotzdem ganz dringend mittanzen. Sami sagt selbst, er habe schon lange nicht mehr so viel auf einer Festivalshow gelacht – ja, es haben wirklich alle Spaß bei dieser Electroparty. Daher verziehe ich mich auch mit leisem Bedauern schon früher, aber auf dem Schiff warten die nächsten Muss-Bands des Festivals, der zweite Teil der Schwedendelegation, Cryo und Spark!. Als ich zu Jäger 90 (klassischer EBM) auf das Tanzflächendeck komme, laufe ich erst mal gegen eine solide Schweißwand – die Klimaanlage wurde offensichtlich erfolgreich in Grund und Boden gestampft. In der Umbaupause stürzen zum Glück dann viele an Deck, sodass sich die Luft auch vor der Bühne etwas erholen kann und ich mir mit ein paar Freunden gute Plätze in den ersten Reihen sichern kann.
Cryo – Martin Rudefelt und Torny Gottberg – gibt es bereits seit diversen Jahren, ich sah sie schon 2013 in Malmö, doch in Deutschland sind sie immer noch ein Insidertipp. Das ändert sich hoffentlich mit dem starken aktuellen Album The fall of man, einer echten Perle düster-tanzbarer Electromusik, und auch mit den Auftritten hier auf dem Amphi und dem NCN im September. Die beiden Schweden geben erbarmungslos Gas; wenn Torny nicht gerade an den Synths oder Drumpads beschäftigt ist, ist er unermüdlich auf der Bühne unterwegs, shoutet und feuert das Publikum an. Martin ist mit seinem in verschiedenen Farben leuchtenden Mikroständer, den er auch gerne mal durch die Luft wirbelt, ein echter Blickfang. „Smile forever“ oder „Control“ vom neuen Album heizen die Stimmung vor der Bühne immer mehr an. Die steigert sich von Song zu Song, was bei Electro-EBM-Krachern wie „I tune in“, „Decay decay decay“ oder „Believer“ auch keine Überraschung ist. Gefühlt ist sowieso halb Schweden aufs Amphi gereist, und die Leute flippen bei „ihren“ Bands amtlich aus. Eine tolle Atmosphäre, in der Martin und Torny mit „Sanitarium“ (Martin im weißen Doktorkittel) den Auftritt beenden. Mir persönlich fehlt jetzt nur noch „Guantanamo Bay“ mit den dazugehörigen orangenen Overalls, aber man kann nicht alles haben. Cryo auf dem NCN – merkt es euch!
Meine Gruppe und ich halten dann gleich mal die Stellung vor der Bühne, denn jetzt wird es eng und kuschlig: Spark! stehen auf dem Programm. Es ist unglaublich beeindruckend, wie populär das südschwedische EBM-Duo in den letzten Jahren geworden ist, obwohl (oder gerade deswegen?) ein Sängerwechsel und auch eine Image-Neuorientierung anstanden. Das Songmaterial war früher schon sehr, sehr stark, jetzt wissen Spark! auch, wie sie sich auf der Bühne präsentieren wollen. Nicht zu ernst, ist die Devise! EBM soll knallen UND Spaß machen, und dieses Konzept funktioniert wunderbar. Christer Hermodsson und Mattias Ziessow kommen mit den bekannten Zirkuskostümen auf die Bühne, der erste Ton von „Två mot en“ ertönt, und das Schiff explodiert geradezu. Nachdem im Sekundentakt 90-Kilo-Männer in mich hineinfliegen und die vor mir stehenden Herren nicht bereit sind, mir einen Handbreit Festhaltefläche am Geländer zu gewähren, verziehe ich mich schweren Herzens an den Rand, wo ich aber tatsächlich noch einen Platz zum Tanzen finde. Denn Stillstehen ist bei „Alla på en gång“ wirklich nicht möglich, da sind „alle auf einmal“ voll dabei, auch wenn man sich vielleicht schon ein bisschen „Zombifierad“ fühlt, Sauerstoff ist schon jetzt nicht mehr vorhanden. Egal, es wird weitergetanzt, „Brinner som vackrast“, „DNA“, „Tankens mirakel“ – Schlag auf Schlag geht es, das Publikum ist auch über die anwesende Schwedenfraktion hinaus sehr textsicher und brüllt fröhlich die Refrains mit. „Ett lejon i dig“ (die hüpfenden Russen im inoffiziellen Video, anyone?) versemmelt Christer wieder ein bisschen, was der Dynamik des Songs aber keinen Abbruch tut, dafür brilliert er – diese Stimme! – bei „Dysfunctional“ und „Weit voraus“ wieder. Beim legendären „Maskiner“ singen wieder alle mit, bei „Stå emot“ beben die Schiffswände beim Refrain. Christer und Mattias verabschieden sich mit einer kleinen Tanzeinlage, das Publikum mit ohrenbetäubendem Jubel. Zum Glück geht nicht wie beim WGT der Feueralarm nach diesem Auftritt los, aber es fühlt sich definitiv so an. Wahnsinn!
Während neue Massen sofort nach Konzertende vor die Bühne drängen, um einen guten Platz für die nachfolgenden Rabia Sorda zu ergattern, verziehe ich mich nach oben zum Merch-Stand und plaudere mit Freunden noch eine Weile mit den Progress-Productions-Leuten, gebe Geld für sinnvolle Dinge (T-Shirts) aus, bis es schließlich gemütlich zurück zum Festivalgelände geht – ich brauche jetzt dringend frische Luft. Ein paar Lieder erwische ich noch von Project Pitchfork, habe aber wohl am Anfang wegen Technikproblemen auch nicht viel verpasst. So tanze ich dann noch entspannt zu „Souls“, „Titânes“ und „Beholder“, der Sound könnte insgesamt besser sein, war aber an gleicher Stelle bei Pitchfork schon auch viel schlechter. Die Band ist wie üblich mit zwei Drummern unterwegs, es sitzt alles, die Meute ist begeistert. Passt.
Da ich mich dann doch mal hinsetzen muss und mich an Ort und Stelle unter einen Pilz sinken lasse, bleibe ich dann auch gleich noch zu In Extremo, eine Band, von der ich viel kenne, die mich aber nie groß gereizt hat. Mit der starken Konkurrenz auf dem Schiff (Das Ich) und im Theater (Nachtmahr) scheint es mehr Leuten so zu gehen wie mir, beim Headliner war es definitiv schon voller vor der Main Stage. Die Kulisse ist aber immer noch beeindruckend genug, und auch wenn Micha Rheins Stimme schwer angeschlagen ist, bringt die Band durch ihre Routine ordentlich Power auf die Bühne. Die Pyros tun ihr Übriges, und da wahrscheinlich jeder der Anwesenden schon mal mindestens ein Lied von In Extremo gehört hat („Vollmond“ ganz bestimmt), klappt das Mitsingen und Tanzen auch ziemlich gut. Manchmal habe ich das Gefühl, als würde die Band doch ein bisschen mit angezogener Handbremse agieren, aber vielleicht habe ich mir auch mehr Rums und Tröt erwartet. Nach „Quid pro quo“ verziehen wir uns in den Beach Club, wo die Akustik dieses Jahr so gut ist, dass man auch von dort alles von der Hauptbühne hört. Kurz vor zehn beenden In Extremo ihren Auftritt mit einem Pyroknall, der das ganze Gelände taub gemacht haben muss, und das fünfzehnte Amphi ist endgültig vorbei. Meine Truppe bleibt noch eine Weile gemütlich im Beach Club, etwas wehmütig und sehr, sehr glücklich, dass wir wieder so ein schönes Amphi hatten. Nächstes Jahr sind wir auf jeden Fall wieder dabei.
Und was war sonst noch alles so? Viele hochklassige Bands musste ich leider ausfallen lassen – Dive, Cassandra Complex, Haujobb, Coma Alliance … Hat sich alles mit meinem Programm überschnitten, auch die White Lies hätte ich gern mal angetestet. Die großen Mainstream-Namen wie Lord of the Lost, Unzucht, Blutengel usw. sind jetzt nichts für mich, da berichten aber bestimmt viele andere Magazine, wo ihr dann die Auftritte nachlesen könnt. Musikalisch war auf jeden Fall für alle was dabei, menschlich sowieso (so viele liebe Freunde und Bekannte getroffen und neue kennengelernt). Organisatorisch hat sich ein bisschen was getan, die Pfandmarken sind abgeschafft, dafür gibt es einen extra Pfandrückgabestand auf dem Tanzbrunnen. Die bewährten Trinkwasserstellen haben uns auch dieses Jahr wieder oft gerettet, zumal man sich jetzt auch noch eine schicke Amphi-Trinkflasche für zwei Euro kaufen konnte (diese flachen Dinger zum Zusammenrollen). Beim Essen hat vor allem der Stand mit dem veganen Essen gewonnen, der war nämlich am Sonntag dann restlos ausverkauft. Sonst gab es das übliche Angebot, da weiß man nach ein paar Jahren, was einigermaßen schmeckt und verträglich ist. Das Wetter hat uns dieses Jahr mit den ganz heftigen Extremen verschont, weder war es zu heiß noch zu nass (außer wenn man das Schwitzen wegen der Schwüle einrechnet), das angekündigte schwere Unwetter hat sich als ein paar kleinere bis mittelschwere Regengüsse am Samstag entpuppt. Sehr schön fand ich auf dem Schiff auch die zusätzlichen Stuhlreihen am Rand auf dem Tanzflächendeck, wo man sich unkompliziert immer mal für eine Weile niederlassen konnte. Ein großer Dank geht an alle Angestellten auf Schiff und Tanzbrunnen und die Secus, die alle immer freundlich, schnell und tiefenentspannt waren. Das Publikum ist ja sowieso klasse, da fühlt man sich auch bei 12.000 Gästen nicht gestresst. Bis nächstes Jahr!
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