Und wir tanzten bis zum Ende, zum Herzschlag der besten Musik

P1110871Fehlfarben spielen ihr gesamtes Erstlingswerk Monarchie und Alltag aus dem Jahre 1980, klar, da muss ich hin. Vielerorts wird sie als beste deutsche Platte aller Zeiten angesehen, und darüber hinaus war sie prägend für die deutsche Punkbewegung. In meiner persönlichen Rangliste hat sie zwar „nur“ Platz zwei hinter Keine Macht für Niemand (1972) von Ton Steine Scherben, aber das ist meiner Vorfreude egal. Im Vorprogramm bringen die Fehlfarben junge Kollegen vom Indie Label Tapete Records mit, und zwar Black Heino. Ein Name, den man so schnell nicht vergisst, und der seltsame Assoziationen weckt.

P1110700Stau auf dem Mittleren Ring, daher treffe ich erst eine Viertelstunde vor Konzertbeginn im Backstage ein. Das ist scheinbar aber mehr als ausreichend, denn die Halle ist überraschend leer, nur um die Bar herum hängen ein paar Leute ab. Liegt das an der allgemein wohl eher unbekannten Vorband Black Heino? Diese besteht aus Ex-Hamburgern und Neu-Berlinern Max Power (Schlagzeug), Kpt. Plasto (Gitarre & Gesang), Yves Fontanille (Bass) und Diego Castro (Gitarre & Leadgesang). Erst als Black Heino ihr Set mit „Eigenheim“ eröffnen, füllt sich die Halle mit Rauchern und Nachzüglern. Was mir sofort auffällt, statt dem üblichen König Ludwig, hat Kpt. Plasto sich ein Flensburger Pilsener mitgebracht, ein echter Kapitän hat eben Geschmack. Nach dem zweiten Song „Guido Knopp“ begrüßt Diego Castro das Publikum: „Schönen guten Abend! Kommt ruhig näher, wir beißen nicht. Aber wir trinken!“ Ein paar Schritte geht es zwar nach vorn, aber drei Meter vor der Bühne bleiben frei. Das liegt vielleicht am Sound, den ich als etwas laut empfinde, sodass die Stimme nicht wirklich durchkommt und der Gesang schwer zu verstehen ist. Gerade bei so einem Diss-Song oder Textzeilen wie „Eigenheim, Eigenheim, ich baue dich kurz und klein“ ist das sehr schade. Nun folgt „Eine kleine Geschichtsstunde durch Hammerbrook: ‚Die toten Augen von Hammerbrook‘!“ So langsam werden die Leute warm, wippen mit dem Kopf und grooven sich ein. Nun teilt Diego mit: „Das nächste Lied ist Herrn Pfaffenbrot gewidmet, der war mein Manager beim Jobcenter, und der hat bei mir verscherzt.“ – Johlen aus dem Publikum – „Und deswegen singe ich jetzt in ganz Deutschland dieses Lied über ihn: ‚Fuck you, Herr Pfaffenbrot!“
Yves scheint ein bisschen schüchtern zu sein, sein langes Haar hängt beständig vor seinem Gesicht, sodass man selbiges kaum zu sehen bekommt. Er bleibt lieber im Hintergrund der Bühne und konzentriert sich ganz auf sein Bassspiel auf einer schönen Gitarre, die tatsächlich die Form eines kleines Kontrabasses hat. Es folgt „Die Mittelklasse“ bevor Kpt. Plasto schnell noch einen Schluck Flensburger nimmt, dann geht es weiter mit „Phantom U-Boote“, „einem Lied von der kommenden Platte“, in dem die mysteriösen U-Boot-Sichtungen vor der schwedischen Küste in den 2010er Jahren thematisiert werden.
P1110656„Fear of a Black Heino“ ist eine richtige Hymne, der der zweistimmige Gesang noch einmal mehr Schmiss verleiht. Auch das Publikum reagiert begeistert mit dem bislang lautesten Applaus. Aber die drei Meter Abstand zur Bühne werden weiterhin in der etwa halb vollen Halle respektvoll eingehalten, die Leute haben eben doch Angst vor Black Heino. Auch das folgende „Der Osten“ beinhaltet zweistimmigen Gesang und hält so die gute Laune aufrecht. „So, jetzt kommt noch eins, das entstand aus Langeweile vorm Computer.“ – Alle mitleidig: „Ooh.“ – „Ja, das kennen wir alle, leere Pizzakartons, stinkende Tennissocken, nie gelüftet …“ Nach „Weltzeituhr“ neigt sich der Gig dem Ende zu. Nun spricht Diego seine Mitmusiker an: „Ich weiß gar nicht, wie lange gibt’s uns als Band eigentlich schon? Acht Jahre?“ Die antworten jedoch mit: „Vier!“, was für allgemeine Erheiterung sorgt. Der letzte Song „Europa: Zwei Frauen“ dreht sich thematisch um Wirtschaftskrise, Flüchtlingskrise und die NSU-Morde, wie er ankündigt. „Träum schlecht vom Sex mit Beate Zschäpe“ wünschen Black Heino im Song und verabschieden sich mit einem schlichten „Vielen Dank!“ nach einem insgesamt gelungenen vierzigminütigen Gig, aber trotz diverser „Zugabe“-Rufe wird keine gewährt. Die Hamburger Schule trifft Berliner Assi-Punk, und abgerundet wird dies mit einer ordentlichen Portion sechziger Garage Rock und Elementen von David Bowie und Iggy Pop aus den Siebzigern. Weiter so, ich hab‘ euch auf dem Schirm.

P1110819Die folgende Umbaupause wird den Wartenden angenehm verkürzt, denn als erstes wird eine Dia-Leinwand aufgehängt, auf der alte Filmaufnahmen und Konzertmitschnitte von Fehlfarben ablaufen. Eine tolle und unterhaltsame Idee, und so vergehen die zwanzig Minuten zur zweiten Show schnell. Eine der letzten Einstellungen zeigt nur die Füße von Peter Hein, wie sie am Tanzen sind. Nun betritt die Band die Bühne der etwa zu drei Vierteln gefüllten Halle, Peter tänzelt dabei genau so, wie eben noch im Video zu sehen war. Auch die anderen nehmen ihre Positionen ein, Saskia von Klitzing sitzt am Schlagzeug, Kurt Dahlke bedient links Keyboard und Synthesizer, neben ihm Michael Kemner mit dem Bass. Auf der anderen Seite spielt Multiinstrumentalist Frank Fenstermacher Saxophon, Keyboard und Percussion, und Thomas Schneider ersetzt seit 2014 Uwe Jahnke an der Gitarre. Die Dia-Leinwand wird nun zu einem Polaroid-Foto, wo permanent alte Foto-Schnipsel eingespielt werden. Ohne weiteres Geplänkel beginnt die Band die Show bzw. Platte mit „Hier und jetzt“, aber leider kommt der Gesang noch immer nicht ideal rüber, dementsprechend vorsichtig zurückhaltend ist auch das Publikum. Doch schon bei „Grauschleier“ liegt dieser zum Glück „über der Stadt“ und nicht auf der Stimme, und alle werden langsam warm. Weiter geht es mit „Das sind Geschichten“, bevor Thomas ein intensives Gitarrenintro zu „All that heaven allows“ spielt. Die Stimmung steigt allgemein spürbar, und bei „Gottseidank nicht in England“ flippt der erste vor der Bühne aus. Der Refrain „Und wenn die Wirklichkeit dich überholt, hast du keine Freunde, nicht mal Alkohol“ bringt weitere Leute zum Tanzen, und zum Finale steht Saskia an den Drums sogar kurz auf. Derart angeheizt passt „Militürk“ darauf perfekt. Der Text stammte seinerzeit von Gabi Delgado und wurde von DAF unter dem Titel „Kebabträume“ ebenfalls aufgenommen. Viele singen den Text mit, Frank spielt dazu eine orientalische Flöte und ein Schlaginstrument, das wie eine Küchenreibe aussieht. Peter tänzelt wieder ordentlich, und die Schlüsselzeile „Deutschland, Deutschland, alles ist vorbei“ ätzt er regelrecht ins Mikro hinein. Geil, dieser Ausdruck dabei, und die Menge wird nun richtig laut.
P1110852Jetzt wendet er sich auch das erste Mal direkt ans Publikum: „Dankeschön und guten Tag überhaupt! Jetzt drehen wir die Platte um!“ und legt in den Jubel nach: „Wir sind die Fehlfarben, die früher diese lustigen Texte hatten, aber das ist jetzt vorbei!“ Also folgt „Apokalypse“, der Rhythmus treibt die Leute weiter an. Ich überrasche mich selbst mit einer Gänsehaut, während die Füße automatisch dem Rhythmus aus Bass und Schlagzeug folgen. Ich drehe mich kurz um, und die Menge tanzt ebenso bis unter dem Catwalk im Hintergrund der Halle. Zum Finale des Songs spielt Saskia ein tolles und bejubeltes Stehsolo an den Drums. Doch es gibt „keine Atempause“, es geht weiter mit „Ein Jahr (Es geht voran)“. Peter setzt dabei zu früh an und bricht noch einmal ab, aber dann klappt sein Einsatz. Das hat nicht weiter gestört, aber sicherheitshalber wirft Peter einen kurzen Blick auf den Spickzettel, der auf dem Drumpodest liegt. „Was kommt jetzt?“ – Richtig, jetzt kommt „Angst“. Die Stimmung ist toll, „Und wir tanzten bis zum Ende, zum Herzschlag der besten Musik“, wie es im folgenden „Das war vor Jahren“ heißt. Peter will nun noch einmal auf dem Zettel spicken, doch jemand ruft laut „Paul ist tot!“ Da muss er lachend feststellen: „Richtig, wer die Platte kennt weiß, was jetzt kommt.“ Der Sound nimmt mich noch einmal gefangen, bei „Paul ist tot, kein Freispiel drin“ kriege ich die nächste Gänsehaut. „Was ich haben will, das krieg‘ ich nicht. Und was ich kriegen kann, das gefällt mir nicht“ muss man einfach mitsingen. Die meisten Leute tanzen, und ich muss mir ein Tränchen wegblinzeln, denn nun endet Monarchie und Alltag. Was für ein Album, das auch nach all den Jahren nichts von seiner Kraft eingebüßt hat. Auf der Fotoleinwand erscheint kurz Heino auf dem Cover einer alten Illustrierten, eine kleine und witzige Hommage an die Vorband Black Heino. Im Jubel des Publikums verschwindet Peter klammheimlich von der Bühne, und die Band dreht für ein rockiges Finale noch einmal richtig auf. Ein toller Abend, jetzt wäre es eigentlich perfekt. Aber natürlich fordert das Publikum nach Zugaben, und dem können sich die Fehlfarben auch nicht entziehen.

P1110935Wieder zurück auf der Bühne erklärt Peter: „Jetzt waren wir eine Platte lang vernünftig, nun ist es Zeit unvernünftig zu werden. Wir wollten eigentlich `ne CD abspielen, aber das geht technisch nicht. Jetzt müssen wir den Mist spielen, den wir geprobt haben.“ In das Gelächter hinein schiebt er noch nach: „Jetzt kommt neue Scheiße nach der alten!“ Die erste Zugabe ist „Der Dinge Stand“ vom letzten Album Über…Menschen von 2015. Früher schimpfte man über die Alten, heute kriegen die Jungen ihr Fett ab: „Mit der App in der Hand unters Auto gerannt. Mit Beats auf den Ohren, das Leben verloren.“ Weiter geht es mit „Im Sommer“ vom Album Glücksmaschinen aus 2010. Der Sound fügt sich gut ein, aber dennoch ist in der Pause ein kleiner Bruch entstanden. Mit „Platz da!!!“ vom Album Xenophonie (2012) ist dieser jedoch schon wieder vergessen, die Band rockt, und die Leute gehen wieder richtig mit. Auch Black Heino sind mit dabei. Nun muß sich Peter kurz setzen und nimmt einen tiefen Schluck König Ludwig. Nach „Stadt der 1000 Tränen“, noch einmal von Glücksmaschinen, kommen wir zum Schluß: „Ja, danke, jetzt kommt das letzte Lied … So haben wir uns das vorgestellt.“ Es folgt also „So hatten wir uns das nicht vorgestellt“ wieder von Über…Menschen. Die Saxophon-Einlage von Frank klingt verdächtig nach Joy Division, ungewöhnlich, aber gut. Eine kurze Verabschiedung der Band, Peter ist schon vorab winkend verschwunden, aber die Leute haben immer noch nicht genug, und so werden die Fehlfarben noch einmal zurückgeklatscht. Peter erscheint nun auch mit einem Flensburger Pilsener und meint: „Normalerweise spielt man bei den Zugaben die alte Scheiße, aber das können wir ja nun nicht. Aber unsere neue Scheiße ist immer noch besser als die alte Scheiße von anderen!“ Das Publikum johlt, und es folgt das schwungvolle „Das Komitee“ (Album Über…Menschen). Den nun wirklich letzten Song „Politdisko“ von Handbuch für die Welt von 2007 kündigt Peter mit: „80ies Revival Disco!“ an.
Damit endet ein toller Abend, bei dem mit Black Heino eine junge und aufstrebende Band am Start ist, die man sich unbedingt merken sollte. Trotz des leichten Soundproblems fügen sie sich gut ein als Vorband. Fehlfarben sind eine Bank, kein Wunder bei der präsentierten Platte. Aber auch die neuen Songs sind fehlfarbentypisch und machen live ebenso Spaß.

:mosch: :mosch: :mosch: :mosch: :mosch:

Setlist Fehlfarben:
Hier und jetzt
Grauschleier
Das sind Geschichten
All that heaven allows
Gottseidank nicht in England
Militürk
Apokalypse
Ein Jahr (Es geht voran)
Angst
Das war vor Jahren
Paul ist tot

Der Dinge Stand
Im Sommer
Platz da!!!
Stadt der 1000 Tränen
So hatten wir uns das nicht vorgestellt

Das Komitee
Politdisko

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  1. […] Die Person Timo Blunck mag einem zunächst nichts sagen. Mit Detlef Diederichsen gründete er die Band Ede und die Zimmermänner, und spätestens bei dem Namen Palais Schaumburg, deren Bassist er ist, sollten bei jedem Anhänger der achtziger Jahre die Glocken klingeln. Sie waren Vorband von Depeche Mode und spielten im The Hacienda in Manchester und in der Danceteria in New York. Er arbeitete mit Anton Corbijn zusammen und war später mit der Hamburger Band Grace Kairos aktiv. Zeitweise lebt er in New Orleans und gründete schließlich die Musik-Produktionsfirma Bluwi. Außerdem arbeitet er als Produzent, zuletzt für das Album Über… Menschen (2015) von Fehlfarben, die gerade in München auf Tour waren (Link zum Bericht). […]

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