Auf großer Fahrt

ASG-Sjöhistoriska-FlyerAgent Side Grinder – das sind Emanuel Åström, Peter Fristedt und Johan Lange aus Uppsala und Stockholm. Elektronische Musik in einer ganz eigenen Düsterklasse, wie die Band auf ihrem letztjährigen Album Jack Vegas (Rezension) wieder einmal eindrucksvoll bewiesen hat. Doch nicht nur musikalisch hat die Band ihre ganz eigene Sprache gefunden, die sich ständig weiterentwickelt, auch in Sachen Bühnenkonzepten wird – neben den explosiven Tour- und Festivalauftritten – fleißig weiter experimentiert. Im September 2023 hat die Band schon mit dem Avantgarde-Duo Siri Karlsson im ehrwürdig-plüschigen Södra Teatern in Stockholm gespielt, und so überrascht es vor zwei Monaten auch gar nicht mal so sehr, als sie einen ganz besonderen Abend für April 2024 ankündigen: The Transatlantic Tape Project 2024, Agent Side Grinder im Sjöhistoriska Museet in Stockholm. Wie bitte? Worum geht’s da? Völlig egal, Ticket wird geordert, um die Reiselogistik etc. wird sich danach Gedanken gemacht. Ein Konzert in einem Seefahrtmuseum (in meiner Lieblingsstadt)? Das kann nur großartig werden.
Das dachten sich offenbar viele Leute, denn der Abend ist blitzschnell ausverkauft, sodass für den Tag zuvor gleich noch ein Zusatzkonzert organisiert wird. So nach und nach wird auch bekannt, worum es an den beiden Abenden gehen wird: Als Johan von 2007 bis 2009 in den USA gelebt hat, haben er und Peter sich Sounds und Musik auf Kassetten hin und her geschickt, aus denen dann das Transatlantic Tape Project entstanden ist. Musik auf Ambient-Basis, mit Sprachsamples und psychedelischen, dronigen Elementen. Damals gab es das Ganze nur in begrenzter Auflage als LP und Kassette, jetzt wird die digitale Wiederveröffentlichung gefeiert. Bei der Live-Umsetzung werden auch einige Bandklassiker zu hören sein, heißt es, und nach einer Weile wird noch bekannt, dass ASG einen Cellisten dazu eingeladen haben. Und was für einen! Henrik Meierkord ist in vielen Projekten aktiv, unter anderem bei Meipr (zusammen mit Peter Josefsson, Rezension von Maltrankvilo hier) oder ganz aktuell in der Konstellation Meierkord/Andersson feat. Ossler (Rezension des Albums Metamorfos hier). Ambient-Fans sollten seine Musik unbedingt antesten, alle anderen aber auch. (Außerdem sei unser Interview von vor zwei Jahren mit ihm an dieser Stelle noch mal empfohlen.)

ASG-Sjöhistoriska-AmphionBesetzung, Konzept und Schauplatz des Abends klingen also im Vorfeld schon legendär, und was dann Freitagnacht nach dem ersten (also dem zusätzlichen) Konzert an Eindrücken im Internet auftaucht, bestätigt die hohen Erwartungen. Das wird toll! „Mein“ Konzertabend beginnt dann schon mit der Anfahrt, denn als ich einsteige, ist der Bus komplett mit Schwarzvolk besetzt, alle sind ganz offensichtlich auf dem Weg zum Museum (das außerhalb des Zentrums liegt), man kennt sich untereinander, und das Ganze hat ein bisschen Festivalfeeling. Dort angekommen, werden wir vom sehr freundlichen Museumspersonal an Café und Bar weiterverwiesen, wo alle noch etwas trinken und sich unterhalten, bevor wir um kurz vor halb neun in die sogenannte Minneshallen eingelassen werden. Ein relativ kleiner, aber hoher, sehr repräsentativer Raum, in dem diverse eindrucksvolle maritime Devotionalien aufbewahrt werden. Die Band hat Synths und Co. vor dem prunkvollen Heckkastell der Amphion aufgebaut, einem Vergnügungsschiff Gustav III., von dem nur noch ebendieser Heckaufbau sowie die zwei Galionsfiguren erhalten sind, die rechts und links davon hoch oben an den Wänden angebracht sind. Nachdem sich alle auf den Stuhlreihen verteilt haben, liegt gespannte Erwartung in der Luft, und der Jubel ist groß, als erst Peter, Johan und Henrik und schließlich Emanuel an Instrumente und Mikro treten. Emanuel liest beim ersten Track „010-195“ eine Passage von Jules Verne vor, und man hält jetzt schon den Atem an, so schön und stimmungsvoll ist das alles. Gänsehaut Nummer eins. Beim nachfolgenden „In from the cold“ – fester Bestandteil von ASG-Konzerten und somit allen bekannt – würden am liebsten einige aufspringen und tanzen. Das sich daran anschließende „210-392“ setzt die kalte, bedrohliche und hypnotische Atmosphäre perfekt fort, untermalt von über das Heckkastell projizierten Videosequenzen, baut sich immer weiter auf und raubt den Atem. Gänsehaut Nummer … Ach, ich habe jetzt schon aufgehört zu zählen. Das nächste Stück, „For the young“ vom Album Alkimia, ist ein besonderes Schmankerl, denn das spielt die Band extrem selten. Warum gerade heute? Die darin immer wieder erklingende Schiffsglocke hängt in diesem Raum. So schließt sich der Kreis, und der Song ist in dieser Live-Darbietung ein ganz besonderes Erlebnis. „008-199“ (das auch auf der Industrial Beauty enthalten ist) erzeugt nach dem melancholischen „For the young“ (Gänsehaut Nummer siebenunddrölfzig übrigens) eine gleichermaßen klaustrophobische wie unendlich weite Atmosphäre, ein Gefühl, als befände man sich allein in einer großen Leere. Wie auf dem Ozean? Ein bisschen, ja.
ASG-Sjöhistoriska-BandSehr viel dichter und drängender ist der Sound beim ebenfalls äußerst selten live gespielten „Decompression“ vom Album A/X, das laut Infozettel von der Druckkammer im Dyktankshuset (heute ein kleines Museum, mehr Infos hier) inspiriert wurde. Auch hier werden Klangwelten aus ineinandergreifenden und sich überlagernden Sounds geschaffen, aus denen man am Ende tatsächlich erst wieder auftauchen muss. Wahnsinn! Noch seltener wurde bisher das nächste Stück live gespielt, „The archives“, das auf der Remixscheibe REMA/X enthalten ist. Eine getragene, ergreifende Ballade, bei der auch wieder die Schiffsglocke (vom Band) erklingt. Auch das aktuelle Album Jack Vegas wird zum Glück bedacht, mit dem wunderwunderschönen „Decipher“, das sich zu einem wahren Klangmonster entwickelt, das die Minneshallen komplett ausfüllt. Man möchte (und kann natürlich) nur die Augen schließen und sich in die Musik fallen lassen. Ein wenig zu Atem kommt man wieder beim letzten Stück, „090-210“, bei dem Emanuel einen Text von Harry Martinson vorliest und Johan sich ans Klavier setzt, danach brandet lauter Jubel auf, Standing Ovations, das Glück im Raum ist geradezu greifbar, während noch die letzten Töne in der Luft hängen.

Wow. Was für ein Erlebnis. „Wunderschön“ und „atemberaubend“ beschreibt es nicht mal annähernd. Aus den sowieso schon faszinierenden einzelnen Bestandteilen haben die vier Musiker etwas noch Größeres geschaffen. Die Atmosphäre und Akustik in dem Raum, Henriks Cello, das den Songs noch mehr Tiefe und Eindringlichkeit verleiht, Emanuels Stimme, Peters und Johans Soundcollagen, die Arrangements, die Umgebung, das perfekt dazu passende Lichtkonzept – Gänsehaut. Mit der Songauswahl hat die Band eine Brücke über ihr gesamtes Schaffen geschlagen und gezeigt, dass sie sich in Sachen Vielschichtigkeit und Experimentierfreude die ganze Zeit weiterentwickelt, aber auch immer wieder zu den Wurzeln zurückkehrt. Man darf gespannt sein, was die drei – hoffentlich noch öfter zusammen mit Henrik – weiter austüfteln.

ASG-Sjöhistoriska-Amphion-und-X

Einziges und winziges Manko des Abends: Die eine Stunde Spielzeit war längst nicht genug. Wir alle hätten noch viel länger zuhören können. Eine kleine Entschädigung ist dann das gesellige Zusammensein danach im Café mit Band und anderen Besucher*innen, bis uns das – wirklich großartige – Museumspersonal rauskehrt und der „schwarze Bus“ wieder zurück in die Innenstadt fährt.

Tack, ASG och Sjöhistoriska, för en fantastisk och enastående kväll!

:mosch: :mosch: :mosch: :mosch: :mosch:

Setlist:
1. 010-195
2. In from the cold
3. 210-392
4. For the young
5. 008-199
6. Decompression
7. The Archives
8. Decipher
9. 090-219

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