He’s lost control

John-SavageJoy Division sind eine der wichtigsten subkulturellen Musikbands, deren Einfluss für Bands in den Bereichen Post Punk, Dark Wave, Gothic und Indie Rock bis heute ungebrochen ist. Und deren Sänger Ian Curtis wurde durch seinen Selbstmord zum Mythos. Eine Woche vor seinem 40. Todestag halte ich das Buch in meinen Händen, und so beschließe ich noch zu warten. Der 18. Mai erscheint mir nur allzu richtig, um mit dem Lesen zu beginnen.
Im vorliegenden Buch handelt es sich mitnichten um eine Biographie, auch wenn die Bandkollegen Peter Hook, Bernard Sumner und Stephen Morris natürlich eine prominente Stellung haben. Stattdessen kommen außer ihnen eine Menge weiterer Zeitzeugen zu Wort, die zum Teil aus dem engsten Umfeld von Joy Division stammen. Darunter sind unter anderem die beiden Frauen in Curtis‚ Leben, Deborah Curtis und Annik Honoré, Manager Rob Gretton und Tony Wilson, gemeinsame Gründer des Independent-Plattenlabels Factory Records, Tourmanager Terry Mason sowie Produzent Martin Hannett. Und so wird man auch als langjähriger Fan mit Einblicken überrascht, die man so noch nicht kennt.

Die Gespräche laufen in einem zeitlichen Kontext ab und sind einander dergestalt zugeordnet, dass sich eine zusammenhängende Geschichte ergibt, in der sich nach und nach das Bild verdichtet, wie aus Freunden eine Band wird. Auch der Einfluss der Stadt Manchester wird deutlich, eine zu der Zeit heruntergekommene Industriestadt, die jungen Menschen kaum eine Perspektive geboten hat. Ein paar Fotos untermalen den Werdegang von Joy Division. Mit dem eingangs erwähnten Mythos wird aber in Sengendes Licht, die Sonne und alles andere aufgeräumt, indem die menschliche Seite von Curtis gezeigt wird. Ein Mensch, der innerlich tief zerrissen war und irgendwann keinen Ausweg mehr wusste. Dass es dabei nicht die eine universelle Wahrheit gibt, wird durch die verschiedenen Sichtweisen und Erinnerungen der interviewten Personen deutlich. Diese sind nicht unbedingt immer identisch und teilweise sogar widersprüchlich. Das ist nach vierzig Jahren nur natürlich. Die meisten Interviews wurden von John Savage und Grant Gee übrigens im Vorfeld des Dokumentarfilms Joy Division (2016) geführt. Er ist also eine gute Ergänzung.

Schwarz und weiß ist das Buch gehalten, wie die einzigen beiden regulären Alben Unknown Pleasures und Closer, jeweils gestaltet von Peter Saville. Durch die dicke Pappe des Einbands fühlt es sich fast an, als hätte man tatsächlich eine Schallplatte in der Hand. Das ist toll gemacht und sicherlich kein Zufall. Auf der Innenseite des Klappentextes heißt es: „Und es ist auch die niederschmetternde Geschichte, wie Krankheit und innere Dämonen einen charismatischen Sänger und visionären Texter dazu brachten, der Welt zu entfliehen.“ Hier habe ich bereits eine erste leichte Gänsehaut (und es soll nicht bei einer bleiben im Laufe des Lesens), denn es ist ja nur zu bekannt, wo alles leider hinführt. „Die Geschichte von Joy Division„. Aus erster Hand und ungeschminkt.
Und so endet das Buch schließlich mit den Worten der drei Bandkollegen Peter Hook, Bernard Sumner und Stephen Morris, die weitermachen müssen, nicht anders können, und doch nicht wissen wie. Ihnen bleibt nur die Flucht nach vorn, hinein in eine neue Ordnung. Doch das ist eine andere Geschichte.

Fazit: Der Musikjournalist John Savage erzählt in Sengendes Licht, die Sonne und alles andere „Die Geschichte von Joy Division„, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Er gibt sich dabei keinerlei Spekulationen hin, indem ausschließlich Zeitzeugen zu Wort kommen, er entzieht sich aber auch einer persönlichen Bewertung. Das ist zwar einerseits schade, andererseits aber auch konsequent. Als Leser*in muss man sich ein eigenes Bild machen. Und das sollte man unbedingt, auch wenn das Ende bekannt ist. He’s lost control.

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John Savage: Sengendes Licht, die Sonne und alles andere
Heyne Hardcore, Vö. 27.04.2020
Hardcover, 384 Seiten
20,00 €, als Ebook 15,99 €, erhältlich über Randomhouse
Homepage: https://www.randomhouse.de/Buch/Sengendes-Licht-die-Sonne-und-alles-andere/Jon-Savage/Heyne-Hardcore/e559973.rhd

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